NEUERSCHEINUNG

Des Kaisers alte Kleider

von Redaktion

Arno Geigers „Die Reise nach Laredo“ über Karl V.

Muss lernen, loszulassen: Karl V. (1500-1558), porträtiert 1548 von Tizian. © Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Erzählt schön, tiefsinnig und beschwingt: Bestsellerautor Arno Geiger. © Heribert CORN

Eine Sterbephase ist wohl nie so, pardon, unterhaltsam geschildert worden wie von dem österreichischen Autor Arno Geiger (Jahrgang 1968) in seinem neuen Roman „Die Reise nach Laredo“. Ein heftig gealterter Mann quält sich in seinem Landhaus im spanischen Nirgendwo mit Schmerzen, den Fehlern, die ihm unterlaufen sind, und jetzt mit dem Versuch, endlich sich selbst kennenzulernen. Der will genauso wenig gelingen wie einst die Bemühungen um politische Einheit und Verbesserungen für die Menschen, um Frieden und eine gute Zukunft. Leserinnen und Lesern wird schnell klar, dass dieser 58-Jährige Karl V. sein muss, in dessen Herrschaftsgebiet die Sonne nicht unterging.

Karl entdeckt durch sein Kind das Kind in sich

Geiger interessiert sich nur insofern für den mächtigsten Menschen der Welt im 16. Jahrhundert, als er ihn als so ohnmächtig wie alle anderen zeigen kann. Karl weiß das längst, deswegen hat er 1556 als König von Spanien und Kaiser des Heiligen Römischen Reichs abgedankt und sich mit einem kleinen Hofstaat nach Yuste zurückgezogen. Das Kloster daneben und der Beichtvater sollen ihm philosophisch fromm bei seiner Selbstfindung, die ohne Gott nicht denkbar ist, helfen. Man schreibt das Jahr 1558; Karl wird bald tot sein.

Was ihn noch ein bisschen aufmöbelt, sind ein umständlich bewerkstelligtes Bad – laut Arzt total ungesund – und der elfjährige Geronimo. Der springt fröhlich durch die Natur und langweilt sich mit dem unbeweglichen Alten, ohne zu ahnen, dass der sein Vater ist. Nach dem Ableben des Habsburgers soll er einen anderen Namen bekommen. In die Geschichte wird der uneheliche Sohn des Kaisers als Don Juan d’Austria eingehen, Sieger über die Osmanen bei der Seeschlacht von Lepanto. Bei dem Kranken setzt er als Bub etwas in Gang. Karl kann durch das Kind das Kind in sich finden; kann Menschen wahre Aufmerksamkeit schenken; wagt es, seine Verpanzerung bröckeln zu lassen.

Geiger erzählt die Ödnis der gleichförmigen Tage, die Grübeleien Karls, die Trauer über sein Scheitern, seine Hässlichkeit (das berühmte Habsburgische Kinn) und Hinfälligkeit so farbenreich und humorgespickt, dass man schon beim Lesen des Einstiegs mitgerissen wird. Wie wollte man da noch staunen, dass der Sieche die Kraft hat, mit Geronimo fluchtartig aufzubrechen – nach Laredo? Der Kleine reitet das Pferd, der Berühmte vermag gerade noch so, aufs Maultier zu krabbeln. Der Schriftsteller lässt hier einen Hauch von Don Quijote und Sancho Pansa wehen; und Windmühlen kommen kurz ins Bild.

Ein Cervantes-Augenzwinkern verbietet sich allerdings bei den Abenteuern, die der Alte in Schwarz und der blonde Junge zu bestehen haben. Durch das grauenhafte, fast tierische Schreien einer Frau werden die beiden hineingeschleudert in die Hölle, die Menschen Menschen bereiten. Ein Mann wird von Dörflern beinahe zu Tode malträtiert, weil sie ihn als Außenseiter, einen Cagot, abstempeln. Der slapstickartige „Western“-Auftritt“ Karls (Pistolen!) befreit das Wesen, das nur noch ein Fleischklumpen ist, aus den Fängen der Mörder. Eine Heilerin rettet ihm das Leben. Sie verkörpert Güte und Vernunft, Vorurteilslosigkeit und Wissen.

Ohne den Fuhrmann Honza und seine Schwester Angelita hätte es das Vater-Sohn-Duo nie nach Laredo geschafft; auch nicht ohne die dritte und vierte Außenseiterfigur. Nach einer unerträglichen Strecke durch wüstenartiges Einerlei – Stichwort: Seelenlandschaft – muss obendrein ein Gebirge mit der „Toten Stadt“ überwunden werden. Eine geknechtete Frau aus „Neuspanien“ (eine Indigene aus Südamerika) und ein angeketteter Greif helfen gegen die bösartigen Bewohner, die bereits Honza ermordet haben. Karl ist sich an dem Ort seiner Schwächen Sturheit, Saufen, Spielen, Fressen erneut bewusst geworden, hat zugleich das Unbeschwert-Sein im Tanz wiedergefunden.

Er ist der Vorbote der fruchtbaren Ebene und der sanften Meereswellen bei Laredo. In ihnen springt Geronimo glücklich herum, und Karl sinkt zufrieden in sie hinunter. In der Sterbephase, in der letzten Fantasie, in einem Kunstwerk, wenn man so will, ist er sich endlich nahegekommen. In Yuste läuft das beruhigende Totenritual ab. Der Hofstaat beginnt, sich aufzulösen. Nur wir vermögen, in einigen Personen die Figuren aus Karls fantastischen Abenteuern wiederzuerkennen. Arno Geiger erzählt all das schön, bisweilen kapriziös, tiefsinnig und beschwingt, obgleich von A bis Z luzide durchdacht.
SIMONE DATTENBERGER

Arno Geiger:

„Die Reise nach Laredo“.
Hanser, München, 272 S.; 26 Euro.

Lesung: Arno Geiger stellt sein Buch am 17. September, 19 Uhr, im Münchner Literaturhaus vor; Karten – auch für den Livestream – unter 0761/ 88 84 99 99 oder unter literaturhaus-muenchen.
reservix.de/eventsreservix.de.

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