NEUERSCHEINUNG

Zeilen, die trösten

von Redaktion

Daniela Kriens Roman „Mein drittes Leben“ über den Verlust eines Kindes

Lebensklug: Bestsellerautorin Daniela Krien, mit ihrem Buch steht sie auf der Longlist für den Buchpreis. © Maurice Haas/Diogenes

Ihr Name ist Linda. Die Milde, die Freundliche, die Sanfte. „Dieser Name hat nichts mehr mit mir zu tun.“

Die Frau, in deren sepiafarbene Welt uns Daniela Krien in ihrem neuen Roman wirft, ist gebrochen. Sie hat fast alle Menschen aus einem Leben vertrieben, das den Namen nicht mehr verdient. Es ist ein Weitermachen, irgendwie. Aufstehen (irgendwann), anziehen (irgendwas), auf dem Hof in der ostdeutschen Provinz, auf den sie aus Leipzig geflohen ist, die Hühner füttern, mit dem Hund raus, Feuer im Ofen schüren. „Ein gleichmäßiges Grau hängt über der Gegend und schluckt jeden Übermut; es dämpft die Empfindungen, die guten wie die schlechten. Ich fühle etwas, doch dieses Etwas will nicht hoch hinaus. Es ist ein kleines, unscheinbares und doch lebenserhaltendes Glimmen.“

Lindas Kind ist tot. Wo mal selbstverständliche, im Alltag viel zu wenig geschätzte Unbeschwertheit war, ist Trauer, Taubheit, Wut, Schock. Seit diesem einen Tag, an dem ihre 17-jährige Tochter Sonja fröhlich gen Frauenarzt radelte, um sich die Pille verschreiben zu lassen. Der Satz, den das Mädel ihr beim Abschied zurief, hängt Linda noch in den Ohren: „Jetzt muss ich nicht als Jungfrau sterben.“ Es ist der Tag, an dem Sonja ein Lkw erwischt. Und mit einem Mal alles zerbricht: in eine Zeit davor und danach.

Der Buchtitel aber heißt „Mein drittes Leben“. Denn das ist, was Linda im Laufe dieses intensiven, wahrhaftigen Romans lernen muss: Es gab ein erstes Leben ohne, es gab ein zweites mit ihrer Tochter – und es kann nun wieder eines ohne sie geben. Eines, das über bloßes Existieren hinausgeht.

Nach Sonjas Tod rettet sich Linda in eine Welt, in der nichts an sie erinnert. Raus aus der Leipziger Wohnung, in der sie als Familie gelebt hatten, mit Ehemann Richard, und die so komfortabel eingerichtet war. Auf dem Hof ist alles mühsam – „und mühsam ist gut. Solange die Hände in Bewegung bleiben, schlagen die Gedanken keine Volten, und ich überstehe die Stunden bis zum Schlafengehen.“

Wie häufig bei der 48-jährigen Autorin („Die Liebe im Ernstfall“, „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“) geht es also in die Natur. Zu Beginn herrscht Winter. Kein Wir-freuen-uns-auf-Weihnachten-und-Eislaufen-im-Pulverschnee-Winter, sondern einer, der grau und kalt und unbarmherzig ist. Doch mit dem Frühling wird es für Linda nicht leichter, im Gegenteil: „Zu keiner Zeit des Jahres steht die Welt, die mich umgibt, in krasserem Kontrast zu meinem Empfinden. Ich kämpfe mich durch die Heiterkeit dieser Tage wie durch ein schweres Unwetter, und der einzige Trost ist das verlässliche Ende. Erst wenn die trocken-heißen Sommertage das Grün versengen, die seichten Gewässer austrocknen, alles Lebendige unter der Dürre ächzt und schließlich der Herbstwind an den früh verdorrten Blättern zerrt, werde ich von der Last der Freudenpflicht befreit sein.“

Es wird noch einen weiteren Sommer, Herbst, Winter brauchen, ehe zarte Knospen auch bei Linda wieder aufgehen. In diesem schmerzhaften Prozess begleitet sie die Dorfbewohnerin Natascha. Sie hat eine behinderte Tochter, Nine. „Während sich mein Leben mit Sonjas Ankunft erst voll entfaltete, war Nines Geburt eine Vollbremsung für Natascha.“ Daniela Krien hat selbst eine schwer körperlich und geistig behinderte Tochter. Und auch wenn man nicht von den Biografien der Schreibenden auf ihre Geschichten schließen soll, fließen die eigenen Erfahrungen der Autorin unverkennbar ein. Dieses Buch atmet die ganze Lebensklugheit einer Frau, deren Hände, die über die Tastatur fliegen, Schwielen tragen. Die weiß, wie sich harte Arbeit, Schmerz, Verlassenwerden, Durchhalten, Weitermachen trotz allem anfühlt. Mutig und aufrichtig geht Krien auch in diesem Roman hammerharte Themen an. Erzählt vom Dilemma der Mutter, die erwägt, für sich und das behinderte Kind den Freitod zu wählen, wenn sie selbst mal alt und gebrechlich ist – aus Angst, was sonst aus der Tochter wird, schutzlos dem überlasteten Pflegesystem ausgeliefert. Von Mutterliebe, die an ihre Grenzen kommt. Von der Frage, ob ein Weiterleben nach dem Tod eines Kindes leichter wäre, hätte man sich einst für ein weiteres entschieden. Was dieser Verlust mit der Paarbeziehung macht. Während sich Richard nach Sonjas Tod nach und nach wieder der Sonne entgegenreckt, wählt Linda den Schatten. „Richard hat nichts falsch gemacht. Hat sich nur eines Tages umgedreht und nach vorn gesehen, während mein Blick in die Vergangenheit gerichtet blieb.“ Nicht die Liebe ist ihnen abhandengekommen, sondern die gemeinsame Blickrichtung.

Doch irgendwann sind da auch wieder gute Tage. Entsteht wieder Sehnsucht nach Nähe in Linda. Und lässt sie den Gedanken zu: „Von einem fiktiven Tag in der Zukunft aus betrachtet, wird die Mutterschaft den kleineren Teil meines Lebens ausgemacht haben. Möglicherweise lag der größere noch vor mir.“

Dieses Buch kann Hilfe sein für Menschen, die Verlust bewältigen müssen. Gleichzeitig schärft es den Blick: für das viele alltägliche Glück, so flüchtig, so leicht zu übersehen. Für jene Tage, „an denen wir beide gedankenlos gesund waren und die Unversehrtheit des eigenen Körpers für eine Selbstverständlichkeit hielten“.
KATJA KRAFT

Daniela Krien:

„Mein drittes Leben“.
Diogenes Verlag, Zürich,
304 Seiten; 26 Euro.

Lesung: Daniela Krien stellt ihr Buch am 26. September, 19 Uhr, im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, vor; Karten –
auch für den Livestream – unter
0761/88849999 oder unter
literaturhaus-muenchen.
reservix.de

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