„Um zu begreifen, dass der Himmel überall blau ist, braucht man nicht um die Welt zu reisen“: Trotzdem ließ sich Goethe vom Maler Tischbein in der Campagna di Roma ertappen. © Städel Museum
„Man darf nur alt werden, um milder zu sein“: Wir haben ein fiktives Interview mit Johann Wolfgang von Goethe geführt. © Stiftung Weimarer Klassik
„Ihr wisst, auf unsern deutschen Bühnen probiert ein jeder, was er mag.“ Ein berühmter Satz aus dem Vorspiel Ihres „Faust“. Sie, verehrter Johann Wolfgang von Goethe, waren Dichter, Theaterdirektor, Staatsminister, Wirklicher Geheimer Rat, Wissenschaftler, Naturforscher, Zeichner… Der Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ machte Sie in jungen Jahren zur europäischen Berühmtheit. Durch Sie wurde Weimar zur internationalen Pilgerstätte. Heute haben Sie Ihren 275. Geburtstag und sind noch immer so gegenwärtig wie eh und je. Anlass für uns, mit Ihnen, Excellenz, ein Gespräch zu führen über die Gegenwart und die allgemeinen Dinge des Lebens und Sie um Ihre Meinung zu bitten.
Seit Ihrer aktiven Zeit, also von 1749 bis 1832, hat sich in der Gesellschaft einiges geändert. Vor allem das Leben der Frauen, deren Schicksal Ihre Iphigenie bekanntlich noch als beklagenswert kritisierte.
Alle Gesetze sind von Alten und Männern gemacht. Junge und Weiber wollen die Ausnahme, Alte die Regel. Der Umgang mit Frauen ist das Element guter Sitten. Von einem bedeutenden, frauenzimmerlichen Gedichte sagte jemand, es habe mehr Energie als Enthusiasmus, mehr Charakter als Gehalt, mehr Rhetorik als Poesie und im Ganzen etwas Männliches.
Sind Frauen also die besseren Männer?
Wir alle sind so borniert, dass wir immer glauben, Recht zu haben; und so lässt sich ein außerordentlicher Geist denken, der nicht allein irrt, sondern sogar Lust am Irrtum hat. Gewissen Geistern muss man ihre Idiotismen lassen.
Auch am Gesetz vorbei?
Wenn man alle Gesetze studieren sollte, so hätte man gar keine Zeit, sie zu übertreten.
Was stört Sie an unserer heutigen Zeit?
Bemalung und Punktuierung der Körper ist eine Rückkehr zur Tierzeit. Es ist nichts schrecklicher als eine tätige Unwissenheit. Wenn die Affen es dahin bringen könnten, Langeweile zu haben, so könnten sie Menschen werden.
Ein Problem der Gesellschaft ist der Konsum von Rauschmitteln aller Art. Wie weit geht da Ihre Toleranz?
Es ist eine Forderung der Natur, dass der Mensch mitunter betäubt werde, ohne zu schlafen; daher der Genuss im Tabakrauchen, Branntweintrinken, Opiaten.
Immer wieder versucht unser Gesundheitsminister, mit zweifelhaften Entscheidungen der Lage Herr zu werden.
Mancher klopft mit dem Hammer an der Wand herum und glaubt, er treffe jedes Mal den Nagel auf den Kopf.
Heute wird allgemein beklagt, dass der Bildungsstand rasant sinkt und vor allem junge Menschen eher aufs Smartphone gucken als in ein Buch. Gibt’s etwa keine guten Romane mehr?
Der mittelmäßige Roman ist immer noch besser als die mittelmäßigen Leser, ja der schlechteste partizipiert etwas von der Vortrefflichkeit des Genres. (Aber:) Gewisse Bücher scheinen geschrieben zu sein, nicht damit man daraus lerne, sondern damit man wisse, dass der Verfasser etwas gewusst hat. Sie peitschen den Quark, ob nicht etwas Creme daraus werden wolle.
Wen haben Sie da im Auge?
Ich schweige zu vielem still; denn ich mag die Menschen nicht irre machen und bin wohl zufrieden, wenn sie sich freuen da, wo ich mich ärgere.
Kommen wir zum Theater. Sie leiteten 26 Jahre als Intendant, 1791 – 1817, die Geschicke des Weimarer Hoftheaters. Welche Erfahrung machten Sie, der ja im vorangegangenen Liebhabertheater selbst als Orest auf der Bühne gestanden hat, mit den Darstellern?
Schauspieler gewinnen die Herzen und geben die ihrigen nicht hin; sie hintergehen, aber mit Anmut.
Und wie beurteilen Sie den Zustand der Theater heute?
Der Grund aller theatralischen Kunst wie einer jeden andern ist das Wahre, das Naturgemäße. Je bedeutender dieses ist, auf je höherem Punkte Dichter und Schauspieler es zu fassen verstehen, eines desto höheren Ranges wird sich die Bühne zu rühmen haben. Das deutsche Theater befindet sich (allerdings) in der Schlussepoche, wo eine allgemeine Bildung dergestalt verbreitet ist, dass sie keinem einzelnen Orte mehr angehören, von keinem besonderen Punkte mehr ausgehen kann.
Sie sind zu Ihrer Zeit bekanntlich viel und weit gereist. Doch steht das in keinem Verhältnis zu den Zielen des Massentourismus heute. Sind Sie auf diesen womöglich ein wenig neidisch?
Um zu begreifen, dass der Himmel überall blau ist, braucht man nicht um die Welt zu reisen.
Lässt sich das Reisen nicht auch als ein Kräftemessen des Menschen mit der gewaltigen Natur verstehen?
Wenn Reisende ein sehr großes Ergötzen auf ihren Bergklettereien empfinden, so ist für mich etwas Barbarisches, ja Gottloses in dieser Leidenschaft. Berge geben uns wohl den Begriff von Naturgewalt, nicht aber von Wohltätigkeit der Vorsehung. Zu welchem Gebrauch sind sie wohl dem Menschen? Unternimmt er, dort zu wohnen, so wird im Winter eine Schneelawine, im Sommer ein Bergrutsch sein Haus begraben oder fortschieben; seine Herden schwemmt der Gießbach weg, seine Kornscheuern die Windstürme, macht er sich auf den Weg, so ist jeder Aufstieg die Qual des Sisyphus, jeder Niederstieg der Sturz Vulkans. Und diese Zickzackkämme, diese widerwärtigen Felsenwände, diese ungestalteten Granitpyramiden, wie sollte sich ein wohlwollender Mann daran gefallen und ein Menschenfreund sie preisen?
Im September gibt es Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen. Die Befürchtung ist, dass hier die Rechtsaußen-Partei AfD mit ihrer Propaganda für einen neuen Patriotismus in Kunst und Kultur Erfolg haben könnte. Was wäre dem entgegenzusetzen?
Nichts ist widerwärtiger als die Majorität; denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkomodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will. Es gibt keine patriotische Kunst und keine patriotische Wissenschaft. Beide gehören wie alles hohe Gute der ganzen Welt an.
Welchen Stellenwert haben nach Ihrer Ansicht wir Deutschen im heutigen Europa?
Die Engländer werden uns beschämen durch reinen Menschenverstand, die Franzosen durch geistreiche Umsicht. Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause sei. Lasst uns doch vielseitig sein! Märkische Rübchen schmecken gut, am besten gemischt mit Kastanien, und diese beiden edlen Früchte wachsen weit auseinander.
Welche Rolle wird Deutschland innen- sowie außenpolitisch in Zukunft spielen?
Man kann nicht verleugnen, dass die deutsche Welt, mit vielen, guten, trefflichen Geistern geschmückt, immer uneiniger, unzusammenhängender in Kunst und Wissenschaft, sich auf historischem, theoretischem und praktischem Wege immer mehr verirrt und verwirrt.
In Weimar wird heute von früh bis spät auf den Straßen und Plätzen, in den Museen und in Ihrem Haus Am Frauenplan gefeiert, die Alten und die Jungen. Welchen Rat geben Sie ihnen?
Man darf nur alt werden, um milder zu sein; ich sehe keinen Fehler begehen, die ich nicht auch begangen hätte. (Und:) Die Liebe, deren Gewalt die Jugend empfindet, ziemt nicht dem Alten, so wie alles, was Produktivität voraussetzt. Dass diese sich mit den Jahren erhält, ist ein seltener Fall.
Was auf Sie allerdings zutrifft; Sie haben bekanntlich im hohen Alter noch geliebt und, wenn auch vergebens, gefreit. Frauen spielen, außer in Ihren Dramen, trotz aller Liebe eine eher untergeordnete Rolle. Das Fazit Ihres Lebens?
Welch Glück sondersgleichen, ein Mannsbild zu sein.
Information:
Die Antworten fanden wir in Goethes „Maximen und Reflexionen“; des Dichters letzter Satz in diesem „Interview“ ist ein Zitat des Egmont aus dem gleichnamigen Schauspiel.