Stars im Abseits

von Redaktion

Sängerinnen und Sänger fühlen sich immer mehr von Orchestern bedrängt

Gegen die Macht des Orchestergrabens kann sich das Gesangspersonal oft nur noch schwer durchsetzen: zu laut, zu massiv. Doch wer ist schuld an der Misere? © Getty Images

„Es ist kein Laut zu vernehmen“, singt die Prinzessin. Sie hat Recht: Das Orchester ist still, wenigstens für diesen Moment. Rund 110 Musiker sah Richard Strauss für seine „Salome“ vor. Fürs Publikum bedeutet das Hochkulinarik, eine Orgie des Klangs, aber für Sängerinnen und Sänger meist Alarmstufe Rot: Wer kann schon gegen diese Riesentruppe ankommen, gerade wenn am Pult jemand steht, der sich am Klang (und gern an sich selbst) besäuft?

Kein Ausnahmefall ist das. Nicht nur bei Riesenpartituren von Strauss, auch bei kleiner besetzten Werken. Zugleich ist es ein Tabuthema. Wer als Sängerin oder Sänger die Diskussion sucht, gerät schnell in den Verdacht: Ob er oder sie etwa keine Stimme, keine Kondition mehr hat? Dabei ist es evident, und das zeigt nicht nur ein kurzes Hineinhören in die Opernszene: Die Orchester werden immer lauter, unangenehmer, bedrängender fürs Personal auf der Bühne.

Dirigenten wissen zu wenig über Stimmen

Tenor Benjamin Bernheim verlor kürzlich darüber eine Bemerkung in unserer Zeitung, kurz vor der Salzburger Premiere von „Les contes d’Hoffmann“. Die Orchester seien im Vergleich zum 19. Jahrhundert aufgrund der modernen Instrumente lauter geworden, die Stimmung sei höher. All dies sei bekannt. Aber: „Das alles benötigt eine intensivere Diskussion, um uns Sänger zu schützen. Es gibt eine Vielzahl, die sich zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Karriere übersungen haben. Und das liegt nicht unbedingt an ihnen.“ Bernheim selbst, das stellte sich in der Offenbach-Premiere heraus, war Betroffener: Gegen Marc Minkowski am Pult der Wiener Philharmoniker half teilweise nur Forcieren.

Marlis Petersen berichtet von ähnlichen Erfahrungen. „Ich habe das Gefühl, dass es mehr und mehr um den Klang des Orchesters geht statt um die Sänger“, sagt die Sopranistin. „Im Falle der Oper ist das eine Themaverfehlung. Da sind eben sehr viele Egos unterwegs unter den Dirigenten, die sich nicht wirklich darum kümmern, was wir Sänger zu leisten haben.“ Petersen ist auch deshalb Betroffene, weil sie über keine Stahlstimme verfügt, aber dennoch Rollen des dramatischen Fachs singt. Was nur klappt, wenn ein verständiger Partner am Pult steht.

„Ich habe die Salome überhaupt nur gesungen, weil Kirill Petrenko dirigierte“, berichtet sie mit Blick auf ihre Vorstellungen an der Bayerischen Staatsoper. „Er hat zu Beginn der Proben den tollen Satz zum Orchester gesagt: Wir müssen Marlis einen musikalischen Anzug schneidern.“ Einfach, weil sie nicht den klassischen Salome-Sopran habe, „er aber die Art und Weise schätzt, wie ich Musik mache“. Darüber zu sprechen, sei allerdings schwierig. „Man wagt es oft nicht, sich dem großen Maestro zu stellen. Ich habe immer den Mund aufgemacht und die Diskussion gesucht. Denn: Wozu machen wir denn das alles? Doch nicht, damit da unten der Dirigent Befriedigung findet. Wir machen etwas Gemeinsames fürs Publikum und für unser aller Glück.“

Tenor Piotr Beczala hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Orchesterstimmung sei höher als früher, weil viele finden, dass alles schöner, brillanter klingt. „Ich mag das schon auch. Ich bin kein großer Fan des Barock-Klangs. Ich habe ein altes Auto, fahre damit aber nicht zum Einkaufen.“ Und trotzdem: Die Dirigenten seien ehrgeizig. „Sie lassen es laufen und wollen einen tollen, voluminösen Klang genießen – gerade diejenigen, die aus dem symphonischen Repertoire kommen und keine Opernkapellmeister sind.“

Womit man am entscheidenden Punkt ist: Echte Opernkapellmeisterinnen und -meister sucht man an prominenten Positionen meist vergeblich. Die Ochsentour über Korrepetitor, also Klavierbegleiter bei Proben, über viele Repertoire-Dirigate bis hinauf zum Chefposten an einem großen Haus gibt es kaum noch. Berufsverläufe sind das, dank derer man Stimmen genau kennenlernt, ihre Erfordernisse und ihre Eigenheiten also in die musikalische Interpretation einbauen kann. Karrieren wie die von Wolfgang Sawallisch, die ihn seinerzeit an die Bayerische Staatsoper führte. Oder die von Christian Thielemann, neuerdings Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden.

Angesprochen auf das Problem, reagiert Thielemann selbstbewusst – was er sich erlauben kann: „Wenn ein Dirigent die normale Kapellmeisterkarriere durchläuft, dirigiert er ,Vogelhändler‘, ,Verkaufte Braut‘, ,Tosca‘, alles häufig sogar ohne Probe. So ging es mir auch. Man eignet sich ein großes Repertoire an und bekommt damit eine enorme Flexibilität.“ Diese Sensibilität, dieses Handwerk müsse man schon in frühen Jahren lernen. „Viele Kollegen sagen ganz locker: Na, dann dirigiere ich schnell mal eine ,Frau ohne Schatten‘. Ich habe 30 Jahre gebraucht, um mit dem Stück zurande zu kommen. Ähnliches beim ,Ring‘. Erst mit dieser Erfahrung kann man doch einen Sänger durchs Stück führen und einen wirklich fundierten Rat geben.“

Der Normalfall ist heute: Dirigentinnen und Dirigenten aus dem symphonischen Bereich mit entsprechenden Klangvorstellungen wechseln zur Oper. „Früher war es umgekehrt“, sagt Thielemann. Mit den Dirigenten aus der symphonischen Richtung sei es doch so wie bei Filmregisseuren, die plötzlich Oper inszenieren, sagt Petersen. „Schnell mal rüberhüpfen ins andere Genre, das funktioniert nicht.“

Im schlechtesten Fall werden Sängerinnen und Sänger lediglich in den Orchestersound eingepasst. Als weiteres, nur eben vokales Ornament des Gesamtklangs. Die detaillierte Textarbeit bleibt auf der Strecke, ein befreites Singen auf dem Atemstrom erst recht. „Der Dirigentenberuf ist zu 70 Prozent Können, Erfahrung und Talent, zu 30 Prozent Ego“, so formuliert es Piotr Beczala. „Wir Sänger können dadurch verloren gehen. Gösta Winbergh hat immer gesagt: Wenn man mich nicht hört, dann ist das nicht mein Problem…“ Dies sei, so räumt Beczala ein, etwas zu extrem – „geht aber in die richtige Richtung“.

Doch nicht nur die lauten Orchester sind es, die zu schaffen machen. Immer häufiger müssen Sängerinnen und Sänger in Bühnenbildern ihre Arien-Arbeit verrichten, die akustisch schlecht sind. Der Dirigent Roland Kluttig hat unter anderem dies in einem Beitrag fürs Online-Magazin „Van“ behandelt. Kluttig wirbt für rechtzeitige Gespräche unter allen Beteiligten. „Ich kann von Erlebnissen berichten, in denen Bühnenbildner und Regisseure noch im Verlauf der Endproben zu großen Umstellungen bereit waren, wenn sich das klangliche Ergebnis als problematisch erwies“, schreibt Kluttig. Auch Regisseur Kirill Serebrennikow sei 2015 noch nach der Klavierhauptprobe in Stuttgart dazu bereit gewesen, ein entscheidendes Detail seiner Bühne zu verändern, „weil die akustische Situation für einen Sänger und das klangliche Gesamtresultat sehr problematisch waren“. Um welches Stück es sich handelte? Ausgerechnet um Strauss’ „Salome“.

Bei den Bayreuther Festspielen hat Wolfgang Wagner zu seiner Zeit als Intendant jedes Bühnenbild akustisch abgenommen – weil er am besten Bescheid wusste um die klanglichen Verhältnisse im Festspielhaus. Goldene Zeiten für die Musik waren das. Die Akustik der Bühnenbilder habe sich verschlechtert, bestätigt Marlis Petersen. „Einfach, weil es den Ehrgeiz gibt, die tolle, einzigartige, preisverdächtige Szenerie hinzustellen – ohne Rücksicht auf die Erfordernisse der Sänger.“ Andererseits kenne sie schon Regisseure und Bühnenbildner, die sich über die Akustik austauschen. „Gerade bei Holz-Bühnenbildern oder bei einem Rund, das den Schall lenkt, hatte ich viel Glück.“ Das Bewusstsein für die Bühnen-Akustik geht immer mehr verloren, meint auch Thielemann. Und sieht die Verantwortung unter anderen beim Intendanten: „Er müsste im Zweifelsfall schon vor der Bauprobe eingreifen, damit Schlimmes verhindert wird.“

Austauschen, miteinander reden, viel mehr bleibt den Betroffenen also nicht, wollen sie nicht untergehen. Auch bei Orchestermusikern müsse man um Verständnis werben, findet Piotr Beczala. „Wenn diese den Sänger respektieren, dann spielen sie auch anders. Ich sage schon, wenn mir was nicht passt. Auch dafür ist die Probenzeit da. Jammern oder sich ständig beschweren bringt nichts.“
MARKUS THIEL

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