Ein Chef für alle Fälle

von Redaktion

Lahav Shani eröffnet die Saison bei den Münchner Philharmonikern

Zum 200. Geburtstag des Komponisten dirigierte Lahav Shani in der Münchner Isarphilharmonie eine denkwürdige Aufführung von Anton Bruckners neunter Symphonie. © Sven Hoppe

Zum Beispiel die Generalpausen. Andere lassen da Abgründe, ja Canyons klaffen. Kein Darüberkommen möglich, so scheint es für die bangen Sekunden, bis sich die Musik dann doch ein Herz fasst. Man kann solche Stellen noch betonen, sie ausstellen. Ein bisschen Interpretation für Begriffsstutzige ist das oft. Man kann die Stellen aber auch so deuten wie Lahav Shani, wo sogar solche Pausen die richtige Länge haben. Absolut logisch, organisch, wie überhaupt seine gesamte Interpretation von Bruckners letzter und unvollendeter Symphonie.

2026 übernimmt Shani das Ensemble

Viel kommt an diesem Abend in der Isarphilharmonie zusammen. Der 200. Geburtstag Anton Bruckners wird gefeiert. Dazu ist Saisoneröffnung, bei der Shani am Pult der Münchner Philharmoniker steht, die er 2026 als Chef übernimmt. Und vor der Pause sitzt er am Flügel, um von dort aus Bachs Klavierkonzert Nr. 1, BWV 1052, nicht nur zu leiten, sondern selbst zu spielen. Weniger mit Virtuosenattitüde, die Programmwahl ist eher ein Signal: Seht und hört, ich bin einer von euch.

Straffe Tempi wählt Shani, die klein besetzten Philharmoniker musizieren geschlossen und sehnig gespannt. Shani spielt nicht mit hartem, kristallinem Anschlag, eher samtig, vor allem aber mit selbstverständlicher Virtuosität. Musik unter Freunden, das spürt auch das Publikum im fast ausverkauften Saal. Der Klavierklang ist allerdings eher diffus, manchmal sehr indirekt, die Akustik der Isarphilharmonie kommt da an ihre Grenzen.

Als sich dann Bruckners Neunte unter Shanis Händen (er benutzt keinen Taktstock) materialisiert, ist ab Takt eins Magie im Raum. Erklärbar ist so etwas kaum. Man verfolgt, wie Shani Bruckners Kraftlinien nachspürt, sie behutsam zu erforschen scheint. Mit dem Werk ist er zudem an die Richtigen gekommen: Nicht erst seit der legendären Ära von Sergiu Celibidache gehören die Symphonien zur DNA des Orchesters, auch diese Programmwahl ist also ein Signal.

Vor allem aber legt Shani etwas frei, was in Zeiten der Chefs Lorin Maazel und Valery Gergiev verschüttgegangen ist: das einzigartige Klangsensorium der Philharmoniker. Von daher ist diese Interpretation zutiefst traditionell, die Büste Celibidaches im Foyer dürfte noch etwas breiter gelächelt haben an diesem Abend. Wie er lässt sich Shani Zeit für die Neunte, es gibt schließlich viel zu entdecken und zu modellieren. Und es gibt viele Angebote aus dem Orchester, berückende Bläser-Soli oder so seidenweiche wie intensive Phrasierungen der Streicher, die Shani aufgreift, annimmt und sie einbaut in diese kostbare Stunde.

Die Drastik der Neunten hört man schon auch heraus, vor allem im grimmigen Orchestergelächter des Scherzos. Doch bleibt Shani bei aller Dramatik immer Ästhet. Die gute Klangerziehung wird gewahrt, auch beim Fortissimo-Aufschrei gegen Ende des Kopfsatzes. Gewiss ist zu hören und zu spüren, dass es hier um Existenzielles, Unsagbares, Erschütterndes geht. Doch bleibt alles geformt. Ein balancierter Schrecken, wenn man so will, bei dem nicht die Muskelspiele über Lautstärke entscheidend sind, sondern die instrumentalen Zutaten, die Bruckner für solche Momente nutzt. Interessant auch die Orchesteraufstellung: Die acht Kontrabässe postiert Shani in einer Linie hinter dem übrigen Ensemble. Eine entsprechende Grundierung gibt das, eine Tiefenschärfe im Doppelsinn.

Der große Abgesang des Adagios wird von Shani und den Philharmonikern nicht als tränenseliges Lamento inszeniert. Die Musik darf hier, gerade in ihrem berührenden Gestus, ganz für sich und ungestört zu uns sprechen. Dabei bleibt Shani in den Tempi flexibel, zieht zwischendurch auch mal an, um sich dann wieder Zeit zu gönnen, damit Klänge ausatmen dürfen. Sehr radikal können diese Temporückungen sein. Doch nimmt man das gar nicht so wahr, weil sie sich schlüssig zueinander verhalten.

Lange Stille nach dem letzten Ton, dann Ovationen. So gut, so erfüllt, so logisch hat man Bruckner hier lange nicht gehört. Shani, dieser glänzende Instrumentalist und Dirigent, dieser Chef für alle Fälle, passt nahezu perfekt zu den Philharmonikern, spätestens an diesem Abend wird das klar. Ein Bruckner-Zyklus mit ihm wäre jetzt logisch. Mindestens.
MARKUS THIEL

Weitere Aufführungen

6. September, 19.30 Uhr,
und 8. September, 11 Uhr;
www.mphil.de.

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