Festival-Chef Max Emanuel Cencic als Agamennone.
Für einen toten Hirschen lässt Diana (Jasmin Delfs, hinten) die beinahe ermordete Ifigenia am Leben – was Achille (Maayan Licht, vorn) entsprechend feiert: Finale aus der Inszenierung von Max Emanuel Cencic. © Clemens Manser, Falk von Traubenberg
Nur eine Marionette ist sie. Ein willfähriges Hascherl, erschaffen und gelenkt von einer Gottheit, die gern einmal ins Menschenleben eingreift. Vielleicht, weil Diana, im Olymp zuständig für die Jagd, selbst ein Auge auf den starken Achille geworfen hat. Ifigenia, obgleich Titelheldin der Oper, darf also keinen Ton singen. Das besorgt dafür Diana, während Ifigenia zum stummen Spiel verdammt ist. Eine Aufsplittung der Figur, die so nicht im Stück vorgesehen ist, bis zum Schluss bleibt das rätselhaft. Und damit wäre auch schon das Ambitionierteste dieser Inszenierung aufgezählt.
Denn auf eines hat Max Emanuel Cencic, Countertenor, Regisseur und Chef von „Bayreuth Baroque“, keine Lust: die Stücke umzukrempeln, sie zu opfern auf dem Altar seiner Ambition. Auch im fünften Jahr seines exquisiten Festivals in Oberfranken bleibt sich Cencic also treu. Zu erleben gibt es eine Oper, die kaum oder nicht mehr gespielt wird, dies in superber Besetzung und ebensolcher Ausstattung und in einer Inszenierung, die nicht verstören will. All dies im weltweit schönsten Barocktheater, im hölzernen Wunder des Markgräflichen Opernhauses.
Mit „Ifigenia in Aulide“, uraufgeführt 1733, warf Nicola Antonia Porpora seinem Widersacher Händel ein weiteres Mal den Fehdehandschuh hin. Beide konkurrierten damals in London um die Vormachtstellung, und Porpora hatte die besseren Karten – die Stars sangen bei ihm. Entsprechend fielen die Arien aus: Auch in der „Ifigenia“ reihen sich Nummern aneinander, die bei mittelmäßigen Sängern schon mal zur Kehlkopfblockade führen. Wie immer, und das bleibt der Clou von „Bayreuth Baroque“, findet Cencic für alle diese Rollen die passenden Kräfte. Er selbst singt den Agamennone, lässt sich anfangs als erkrankt entschuldigen, was aber später kaum mehr hörbar ist. Die tiefere Lage kommt seinem samtigen, noch immer extrem geläufigen Countertenor entgegen: ein Stilist, der keine Feuerwerke mehr abbrennen muss.
Die Handlung bleibt der antiken Sage treu. Agamennone, Heerführer der Griechen, hat einen der heiligen Hirsche Dianas erlegt. Die Göttin straft ihn dafür mit einer Windstille, die Truppen kommen von der Insel Aulide nicht los. Nur die Opferung von Agamennones Tochter Ifigenia kann Diana besänftigen. Ifigenia wird samt Mutter Clitennestra aufs Eiland gelockt mit dem Versprechen, dort Achille zu heiraten. Tatsächlich verlieben sich beide ineinander, und der Held greift kurz vor dem tödlichen Messerstich ein. Diana zeigt sich ob dieser Liebe besänftigt.
Porpora und Textdichter machen aber noch eine weitere Front auf: die zwischen der rückwärtsgewandten Priesterkaste um Calcante und dem „modernen“ Helden Achille, der nicht an den blutigen Zorn der Götter glauben mag. Auch das gibt genügend Anlass für Arien, die das Innere der Figuren nach außen stülpen. Maayan Licht als Achille, die eigentliche Hauptfigur, schießt dabei nicht nur den Hirschen, sondern den Vogel ab. Ein Sopranist, der sich unangestrengt auch weit oberhalb des Notensystems bewegt, dies mit feinem Stimmstrahl und perfekter Atemkontrolle. Wenn Porpora seinen Helden auf Verzierungssprints schickt, offeriert Maayan Licht lange Ketten erlesenster Koloraturperlen. Auch das Lyrische liegt ihm, dieser Sänger kann seine Pianotöne fast verdämmern lassen, während das Publikum das Atmen einstellt.
Delikates auch auf den übrigen Positionen. Jasmin Delfs als Diana/Ifigenia gestaltet mit oft instrumental geführtem, klug konzentriertem und biegsamem Sopran. Riccardo Novaro (Calcante) ist mit kernigem Bassbariton fürs Virile zuständig. Und als sich Mary-Ellen Nesi als Clitennestra einmal von Pauken und Trompeten begleitet in eine Bravour-Arie wirft, spürt man: Eigentlich hat Mama hier die Hosen an.
Apropos Kleidung: Die kontrastiert apart zum Bühnenbild. Alle tragen antikisierende Gewänder, prachtvoll ist das, das Auge wird dreieinhalb Stunden lang beschäftigt. Die Krieger sehen aus, als seien sie alten Fresken entsprungen, mit Kampfbemalung und zuweilen (so ist es ja historisch korrekt) unten ohne. Wer will, kann sich also an einer Schniedel-Parade erfreuen. Ausstatterin Giorgina Germanou hat dazu abstrakte, verschieb- und drehbare Bühnenelemente entworfen. Einmal hängen drei Frauen wie in Folien verschweißt in drei runden Gestellen – vielleicht Nachschub für die Priesterinnen-Kaste der Götterspinne Diana.
Während Cencic in früheren Produktionen bei „Bayreuth Baroque“ schon mal die Lachmuskeln strapazierte mit hochtourigen Inszenierungen, bleibt „Ifigenia in Aulide“ mindestens zehn Grad kühler. Mit der Handlung hängt das natürlich zusammen. Aber vielleicht auch damit, dass Cencic seine Kolleginnen und Kollegen nicht stören will. Gern darf also die schwere Arien-Arbeit an der Rampe verrichtet werden. Was nicht schlimm ist, Hör- und Schauwerte gibt es ja genug.
Dirigent Rousset lädt zum Hinhören ein
Residenzorchester sind in diesem Jahr Les Talens Lyriques mit ihrem Chef Christophe Rousset. Der ist keiner, der Partituren überhitzt. Wenn es Funken gibt, dann glühen die in warmen Tönen. Rousset hat ein Sensorium für den Drive der Arien, aber auch für Porporas Farbenspiele und die feinen Nuancen. Keine Deutung ist das, die das Publikum überfällt, sondern zum Hinhören einlädt. Auch in einigen Konzerten ist Rousset bei „Bayreuth Baroque“ zu erleben. Es gibt außerdem Solo-Abende mit Stars wie Lucile Ricardot, Sandrine Piau und Nuria Rial sowie eine zweite szenische Produktion, Vivaldis „Orlando Furioso“. Wie sehr sich Cencic mit seinem Festival international etabliert hat, zeigt der Hörtest im Publikum: Deutsch ist da nur eine Sprache unter vielen.
Weitere Aufführungen
am 7., 13. und 15. September; Informationen zum übrigen Programm und zum Vorverkauf unter www.bayreuthbaroque.de.