Tränen am Ort des Terrors

von Redaktion

Eine Installation im NS-Dokuzentrum erinnert an die Opfer von Anschlägen

Gedenken an den OEZ-Anschlag. Die Hinterbliebenen kritisieren, dass der Hintergrund der Tat verharmlost wurde. © bod

Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokuzentrums, wo vergangene Woche ein Anschlag vereitelt wurde. © mg

In Bild und Ton erinnern Videos in Dauerschleife in der Installation im NS-Dokuzentrum an die Opfer terroristischer Anschläge in Hanau, Halle, München, Mölln und anderswo. © kjk

Es fühlt sich alles falsch an. Wer die Dauerausstellung des NS-Dokumentationszentrums in München besucht, die Bilder der unfassbaren Gräuel der Schoah vor Augen, der würde das Haus danach so gern mit dem Gedanken verlassen: Alles vorbei, alles Geschichte, alles ein Albtraum, der sich nicht wiederholt. Doch dann passiert, was am 5. September passiert ist. Ein Terrorist schießt auf das Haus am Max-Mannheimer-Platz. Und fünf Tage später? Trifft man genau an diesem Ort Sibel Leyla. Deren Sohn Can am 22. Juli 2016 beim rechtsterroristischen Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München getötet wurde. Genau wie Armela, Dijamant, Guiliano, Hüseyin, Roberto, Sabine, Selçuk und Sevda. Alle neun starben bei dem Anschlag, der lange als nicht politisch motivierter Amoklauf verharmlost wurde. Und der das Leben etlicher Menschen von einem Tag auf den anderen verändert hat. Wieder Albtraum, wieder der vergebliche Wunsch, endlich zu erwachen. Wieder Enttäuschung, Wut angesichts des Schweigens einer deutschen Gesellschaft, die nie gelernt hat, gemeinsam zu trauern; Erinnerungskultur erst ein paar Generationen später bitte.

Sibel Leyla kämpft dafür, dass der beim OEZ-Attentat Getöteten öffentlich im Sinne der Hinterbliebenen gedacht wird – nicht nur nach dem Schema F institutionalisierter Veranstaltungen alle Jahre wieder. Die Künstlerin Talya Feldman wird diesem Wunsch mit einer Installation gerecht, die nun im NS-Dokuzentrum gezeigt wird. Seit Monaten ist sie hier geplant – seit Donnerstag bekommt dieses Thema an diesem Ort eine Brisanz, die einen nicht kaltlassen kann.

Feldman hat Menschen, deren Freunde oder Angehörige Opfer rechtsextremer Gewalt wurden, die Gelegenheit gegeben, ihre Stimme zu erheben. In ihrem Projekt „WIR SIND HIER“ erzählen sie in Bild und Ton von denen, die sie durch Terror-Akte verloren haben. Seit 2022 existiert „WIR SIND HIER“ als digitale Plattform, die kontinuierlich erweitert wird. Ein Nebensatz, der es in sich hat. Denn dass die Geschichte weitergeschrieben werden muss, liegt daran, dass immer mehr trauernde Menschen die Kraft finden, zu sprechen – aber auch daran, dass der Terror nicht endet. Berlin, Hanau, Halle, Hamburg, Mölln, München, es sind nur einige der deutschen Städte, in denen extremistische Anschläge verübt wurden. In der Installation in München laufen die Erinnerungen an die Opfer dieser Orte nun in Dauerschleife.

Die Worte der Hinterbliebenen dröhnen durch die sonst so stillen Räume. Kuratorin Juliane Bischoff war genau diese Präsenz der Stimmen wichtig. Weghören geht nicht.

Wer sich setzt und einen der ausgelegten Kopfhörer aufsetzt, der kann dann ganz intim die einzelnen Filme für sich anhören und anschauen. Es sind persönliche Worte von Müttern, Großmüttern, Geschwistern. Sie erzählen von Sehnsucht, von Sprachlosigkeit, von Wut auf Behörden, Presse, Täter. Zu sehen sind Lieblingsorte der Verstorbenen: Fußballplätze, Fast-Food-Restaurants, Kickbox-Studio. Nicht die Täter, die Opfer sind es, die im Zentrum stehen. Die Menschen, die das Leid ertragen müssen. Kinder, Männer, Frauen wie Sibel Leyla. Tröstet es, die Videos hier zu sehen? „Ja, denn das Schweigen nach dem OEZ-Anschlag war unerträglich. Dass niemand zugehört hat. Diese Videos geben Kraft“, sagt Leyla.

Nicht nur den Hinterbliebenen, der Gesellschaft als Ganzes. „Ich bin sehr dankbar, dass die Installation da ist. Weil wir genau diese Diskussion jetzt brauchen. Weil wir wieder Terror in München erleben“, betont Mirjam Zadoff, Direktorin des Hauses. Die vergangene Woche selbst erlebt hat, wie mit dem NS-Dokuzentrum zum ersten Mal ein Erinnerungsort zum Ziel eines bewaffneten Anschlags wurde. „Es muss darüber gesprochen werden, dass Erinnerungsorte zunehmend im Fokus terroristischer Gewalt stehen. Dafür gibt es politisch noch keine Sensibilisierung. Wir sind gerade in dem Prozess, den Anschlag zu verarbeiten und darüber nachzudenken, was das für unsere Arbeit und unser Programm bedeutet, wie wir weiterarbeiten, aber auch, um welche Inhalte es gehen muss, weil sie gesellschaftlich wichtig sind.“ Opfer antisemitischer und rassistischer Gewalt stünden natürlich auch im Fokus der Arbeit des NS-Dokuzentrums.

Einst fand man in der Dauerausstellung den Satz „Keine rechtsextreme Partei hat es mehr in den deutschen Bundestag geschafft.“ Mit Talya Feldmans Installation setzt das Haus ein bedrückendes Zeichen, dass man sich nie auf Gewissheiten ausruhen darf. Am Schluss der Ausstellung heißt es: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“ Ein Zitat von Primo Levi aus dem Jahr 1986. Man liest es, schaut herüber auf die Fensterscheiben und das Einschussloch, hört die Stimmen der Menschen, deren Mörder nicht gestoppt werden konnten, und findet keine Worte. Immer wieder. Nie wieder?
KATJA KRAFT

Bis 1. Dezember

Di.-So. von 10-19 Uhr,
Max-Mannheimer-Platz 1.

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