Hat gut lachen: Mithu Sanyal begeisterte 2021 mit „Identitti“. Heute erscheint ihr neuer Roman. © Thomas Lohnes / POOL
Keine Angst beim Aufblättern von Mithu Sanyals neuem Buch „Antichristie“ (auf der sogenannten Longlist des Buchpreises). Was wie ein Drehbuch zwischen Schwenk, Zoom und Fahrt beginnt, ist doch ein süffig fabulierender Roman – halt einer mit allerhand Verweisen aufs Serien-Machen, mit Zitaten von Geistesgrößen sowie der, ja, Serienfigur Doctor WHO. Und einem Londoner Team, das ausgerechnet Agatha Christies Krimis dekolonialisieren soll. Englands Presse hyperventiliert ob des Sakrilegs an der Königin der Detektivgeschichten; obendrein ist gerade die echte Queen verstorben. In dieser Lage Hercule Poirot als Schwarzer! Das treibt die Empörungsspirale nach oben und Demonstranten vor das Büro der unverschämten Autorencrew.
Sanyal (Jahrgang 1971), Wissenschaftlerin und Journalistin, die 2021 mit ihrem poetischen Debüt „Identitti“ durchschlagenden Erfolg hatte, beweist also schon auf den ersten Seiten, dass deutsch-indischer Humor locker mit dem englischen mithalten kann. Bevor sie jedoch ihre Heldin Durga Chatterjee sich ins Londoner Chaos stürzen lässt, steht eine Beerdigung in Deutschland an. Durgas Mutter Lila, die sie in der Kindheit verlassen hatte, ist gestorben. Der Erzählstrang einer verzweiflungsvollen, bitteren, trotzdem komischen Tochter-Mutter-Beziehung wird sich durch den gesamten Text ziehen.
Die egomanische, verquere Hippie-Revoluzzerin Lila hat immerhin einen rührenden bengalischen Mann geheiratet und in ihrer Indien-Euphorie bei der Tochter Wachheit für den Unabhängigkeitskampf auf dem Subkontinent stimuliert. Die wird Durga (Name einer Göttin) in der britischen Hauptstadt nicht nur beim dekolonisierenden Ideen-Sammeln und in den Disputen mit den Kolleginnen und Kollegen brauchen, sondern auch in der Brit-Empire-Hauptstadt von 1906. Das ist der dritte Erzählstrang, in den Mithu Sanyal ihre Protagonistin verwickelt. In der Nähe einer Moschee des 21. Jahrhunderts landet sie plötzlich neben einer Synagoge des frühen 20. Jahrhunderts. Doctor Who lässt grüßen. Dass die 50-jährige Drehbuchautorin mit Hang zu NostalgieSerien (auf One läuft aktuell die Poirot-Reihe mit David Suchet) nun im Körper eines blutjungen Inders steckt, macht ihre/seine Lage nicht leichter.
Hier startet ein Abenteuerroman mit Dickens’scher Tempo-Turbulenz und Sozialkritik, bis der Bursche im India House landet. Dort trifft er neben Poirot und Sherlock Holmes mehrere historische Personen wie den indischen Revolutionär Vinayak Damodar Savarkar, der für Gewalt im Widerstand steht, die Freiheitskämpferin Bhikaji Cama und natürlich Mohandas (Mahatma) Gandhi, der zu dem Zeitpunkt lediglich Rechtsanwalt ist und Gewaltlosigkeit predigt. In diese Gruppe mischen sich bisweilen Frauenrechtlerinnen, ein irischer Revolutionär, Geheimpolizisten und Spitzel. Dieses bunt und lebhaft zwischen Liebeswallungen und kritischem Reflektieren ausgeschmückte Ambiente ist der Rahmen, in dem die Schriftstellerin die Fakten über den tödlichen Imperialismus des britischen Regimes unterbringt.
Ihr ist es zugleich wichtig, Idole vom Sockel zu stoßen, simple Aussagen zu korrigieren und Konfliktlinien auszuleuchten, die damals ihren Anfang nahmen, beispielsweise der Hindu-Nationalismus, und heute weiterhin furchtbaren Schaden anrichten. Die Spaltung von indischen Muslimen und indischen Hindus verortet sie im Teile-und-Herrsche der britischen Regierung. Als deutsche Person lernt man ungeheuer viel: eine Geschichtsschreibung aus indischer Sicht. Da Durga Deutsche ist und ihr die Nazi-Vergangenheit nur zu bewusst ist, vermag die Autorin sogar, unser Missbehagen zu benennen, fremde Gräuel sozusagen anzuklagen. Das und die Vielschichtigkeit des Seins darzustellen, funktioniert bestens auf der Drehbuchschreiber-Ebene – nämlich lustig, unterhaltsam und hoffnungsfroh Happy-End-mäßig.
So verschmelzen in „Antichristie“ – wie es der uralte Grundsatz Prodesse et Delectare will – populäre Kultur und Wissensvermittlung, Beziehungsstress und -glück. Sogar der Antichrist wurde nicht vergessen, allerdings einer, der keiner ist: Es liegt hier eben, getragen von ganz viel Humor und (Selbst-)Ironie, ein wirbeliger Denk-Abenteuer-Roman vor.
SIMONE DATTENBERGER
Mithu Sanyal:
„Antichristie“. Carl Hanser Verlag, München, 543 Seiten; 24 Euro.
Lesung: Mithu Sanyal stellt ihr
Buch am 1. Oktober, 19 Uhr, im
Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, vor; Karten – auch für den Livestream – unter Telefon 0761/88 84 99 99 oder unter literaturhaus-muenchen.reservix.de.