„Erinnern auf sinnlicher Ebene“

von Redaktion

Choreografin Rosalie Wanka über ihre Tanzskulpturen „Stains“

Ihr skulpturale Modellierung des Tanzens lässt Rosalie Wanka im öffentlichen Raum fotografieren. © Paola Gallarato

Tanz hat viele Gesichter – von den religiös-rituellen Formen bis zum Volks- und Gesellschaftstanz, vom klassischen Ballett bis zum Expressionismus ab 1910 und den zahlreich folgenden freien Stilen. Geht da noch eine neue Variante? Ja sicher! Das Tanz-Gen gibt einfach keine Ruhe. Zu entdecken bei Rosalie Wanka. Nach Ausbildung der Münchnerin an den Ballettakademien in München und Wien hat sie in den letzten Jahren ein ganz eigenes Genre kreiert: eine skulpturale Modellierung des bewegten Körpers. Jetzt entstand mit der italienischen Künstlerin und Fotografin Paola Evelina das englisch titelnde „Stains“. Wir trafen Rosalie Wanka.

„Flecken“ als Thema?

Gemeint sind Bauten des NS-Regimes, Schandflecken im Stadtbild. Etwa die Fundamente des Ehrentempels an der Arcisstraße gegenüber vom NS-Dokumentationszentrum, die Musikhochschule, das Haus der Kunst. Durch die Bespielung solcher historisch aufgeladener Orte wollen wir deren unterliegende Ideologie ins Bewusstsein rücken. Sich an steinernen Zeitzeugen körperlich abzuarbeiten, bringt Erinnern auf eine sinnlich-ganzheitliche Ebene – jetzt, wo nur noch wenige echte Zeitzeugen leben.

Was erwartet die Besucher?

Eine Lecture Performance mit Text, Bewegungsszenen und Stop-Motion-Videos der Fotografien von Paola Evelina. Davor und danach kann unsere Installation besichtigt werden, wo Texte, weitere Videos und Fotos ausgestellt werden. Wir wollen mit dem Publikum ins Gespräch kommen. Als Deutsche fühle ich eine Verantwortung, mich mit unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Sie arbeiten eng zusammen mit der Italienerin Paola Evelina.

Sie ist selbst Tänzerin, Architektin und fotografiert meine Arbeiten seit 2015. Damals, für „Bezirzungen“, entwickelte ich die Idee zu dem Schlauch-Kostüm, das mich in der Bewegung beengt und räumlich begrenzt. Durch die Zusammenarbeit ergibt sich ein Blick auf die – wie wir es nennen – Länder der faschistischen Achse: Italien, Deutschland und Österreich.

Schon zuvor waren Sie politisch aktiv bezüglich der rassistisch motivierten Mordserie der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund zwischen 2000 und 2006.

Die Angehörigen der neun Opfer sind mit der Aufarbeitung der Tatbestände nicht einverstanden und verlangen in regelmäßig organisierten „Tribunalen“ eine umfassende Aufschlüsselung des NSU-Komplexes und weiterer rassistisch motivierter Morde. 2022 wurden meine taube Kollegin Kassandra Wedel und ich zum 4. NSU-Tribunal nach Nürnberg eingeladen. Wir sollten mit Gebärdensprache eine Choreografie entwerfen für eine Demo gegen Rechts, und damit den Forderungen der Hinterbliebenen der NSUMorde körperlichen und künstlerischen Ausdruck verleihen. Der Auftrag hat mich sehr berührt.

Kann man sagen, sich selbst zu überprüfen, immer weiter zu lernen ist Ihr Lebensmotto?

Was mich immer besonders inspiriert, sind kulturelle Unterschiede oder Eigenheiten. Also die sogenannte „Interkulturalität“ und Sprachen. Ich bediene mich ja auch mehrerer Tanzsprachen: klassisch, zeitgenössisch und Tango. Mich fasziniert deren Prägung durch die jeweiligen soziokulturellen Werte. Darüber hinaus finde ich es extrem spannend und aufschlussreich, diese Sprachen zu verbinden und damit teilweise gegensätzliche Werte kontrastieren zu lassen. Das heißt zum Beispiel, starke Mann-Frau-Polarität im Tango gegen quasi Gender-Neutralität im zeitgenössischen Tanz. Immer mit dem Wunsch, soziokulturelle Prägungen zu hinterfragen und als relativ und nicht absolut darzustellen.

Wegen der Pandemie haben die Freischaffenden ja eine harte Zeit durchgemacht. Wie sieht die Zukunft aus?

Generell recherchiere ich immer zu neuen Themen für geplante Stücke. Bilde mich im Tanz weiter. Es ist ja alles im Wandel. Ankommen tut man eh nie. Wäre wahrscheinlich auch langweilig.

Vorstellungen

im Münchner Schwere Reiter:
20. und 21. September, 20 Uhr (Einlass 19 Uhr). Karten unter www.schwerereiter.de.

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