Ein Geiselnehmer (o.) und ein getarnter Polizist. © MM-Archiv
Im Kontrollraum: Die ABC-Journalisten verfolgen die dramatischen Live-Bilder mit. © Jürgen Olczyk
Der 5. September 1972 ist ein traumatisches Datum. Für die Angehörigen der zwölf Todesopfer des Olympia-Attentats natürlich. Für Israel, weil in München erstmals nach 1945 wieder Juden auf deutschem Boden und auf offener Bühne umgebracht wurden. Und für Deutschland, weil die Sicherheitskräfte auf fatale Weise überfordert waren. Aber auch für den Journalismus – weil die Geiselnahme im Olympischen Dorf Fernsehsender unvorhergesehen in die Lage versetzte, live vom Tatort zu übertragen. Sie aber zudem vor ein ethisches Dilemma stellte.
Diese journalistische Perspektive bringt der Film „September 5“ ab 7. November auf die Leinwand – und lässt beim Verleih Constantin Film die Korken knallen. Denn die Münchner Produktion wird zu einem Oscar-Aspiranten. Der Partner Paramount, der den Film in die US-Kinos bringt, will „September 5“ vorschlagen. Das bestätigte Constantin-Vorstandschef Oliver Berben am Montagabend anlässlich einer exklusiven Filmvorführung. Zu den Gästen zählte neben anderen die israelische Generalkonsulin Talya Lador-Fresher.
Der Clou an „September 5“: Der Schweizer Regisseur Tim Fehlbaum erzählt die Geschichte im Grunde aus dem Kontrollraum des US-amerikanischen Senders ABC heraus. Gegen den Widerstand der Nachrichtenabteilung berichtet das ABC-Sports-Team live über die 21-stündige Geiselnahme. Geoff (John Magaro), ein ehrgeiziger junger Producer, will sich seinem Chef, dem legendären Roone Arledge (Peter Sarsgaard), beweisen. Mithilfe der deutschen Dolmetscherin Marianne (Leonie Benesch) übernimmt Geoff die Leitung der Sendung. Nur: Darf man „das Auge der Weltöffentlichkeit“ sein, wenn die Täter die mediale Aufmerksamkeit als Bühne nutzen?
Damit sei das Thema natürlich brandaktuell, sagte Fehlbaum am Montagabend. Anfangs habe man die Ereignisse aus vielen Blickwinkeln betrachten wollen, erzählten er und Produzent Philipp Trauer. Doch das hätte die Kosten in die Höhe getrieben, Constantin habe den Daumen gesenkt. „Letztlich war das ein Glück für uns.“ Denn die Konzentration auf ein Kammerspiel (gedreht hauptsächlich in den Bavaria Filmstudios) mache nun den Reiz aus. ABC stellte die Originalbänder zur Verfügung, das ermöglichte eine fast minutiöse Rekonstruktion der Ereignisse im Kontrollraum.
Außerdem trafen die Filmemacher den echten Geoffrey Mason, der 1972 in München war. „Er erzählte uns lebhaft von seinen Erfahrungen an dem Tag, an dem sein Sender als einziger eine Live-Kamera auf das Geschehen hatte.“ Auf die Frage, ob er die Konsequenzen bedacht habe, habe er geantwortet: „Dafür war schlicht keine Zeit.“ Fehlbaum: „In dem Moment wurde Autor Moritz Binder und mir bewusst, dass sich der Film genauso anfühlen sollte: Das Publikum soll den Rausch der Live-Berichterstattung miterleben, soll dabei sein, wenn Entscheidungen immer gegen eine tickende Uhr getroffen werden müssen. Soll miterleben, wie Fehlentscheidungen nicht die Folge von Absichtlichkeiten sind, sondern am Ende einer komplexen Maschinerie stehen. Wie im Leben kommt die Reflexion erst danach.“
Seit seiner Weltpremiere bei den Festspielen in Venedig und vor allem seiner US-Premiere beim Festival in Telluride hat der Film am Momentum gewonnen. Nun habe sich der Weltvertrieb Paramount entschieden, am 27. November damit in ausgewählte US-Kinos zu gehen und die Oscar-Kampagne zu starten, teilt Constantin mit. Somit läuft er im regulären Wettbewerb (in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ reicht Deutschland „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ von Mohammad Rasulof ein).
Gut möglich also, dass „September 5“ Furore macht – und damit auch das Thema. Generalkonsulin Lador-Fresher jedenfalls würde sich das wünschen. „Erstmals wurde 1972 Terror live übertragen.“ Es sei sicher kein Schaden, wenn die Medien ihre Rolle auch heute reflektierten.
JOHANNES LÖHR