Science-Fiction in der Heimat

von Redaktion

Die Kammerspiele starten heute mit „Mia san Mia“ in die Saison 2024/25

Der chilenische Regisseur Marco Layera. © Privat

Der Dramaturg Martín Valdés-Stauber. © Thomas Dashuber

In einer nicht näher definierten Zukunft, auf einem kargen und lebensfeindlichen Planeten, auf dem bayerisches Brauchtum zelebriert wird, ist „Mia san Mia“ angesiedelt. Mit der Uraufführung starten die Kammerspiele heute in die Spielzeit. © Matthias Horn

Ziemlich genau ein Jahr ist es her, da gastierte der chilenische Regisseur Marco Layera mit seinem jungen Theaterkollektiv La Re-sentida an den Münchner Kammerspielen. „La posibilidad de la ternura/ Die Möglichkeit von Zärtlichkeit“ hieß der kraftvolle und zugleich zarte und poetische Abend in der Therese-Giehse-Halle über toxische Männlichkeit, festgeschriebene Rollenbilder und Geschlechterklischees.

Heute eröffnet Layera die Spielzeit im großen Haus mit einer deftigen Science-Fiction-Groteske über Identität, Brauchtum und Klischees, über Ausgrenzung und Klassismus. Das alles steckt schon in dem griffigen Slogan „Mia san Mia“, der dem Abend seinen Namen gibt und den Layera und sein „Partner in Crime“, der Dramaturg Martín Valdés-Stauber, umkreisen. Denn dieses „Mia san Mia“ kennzeichnet immer eine „Gemeinschaft, eine Gruppe, die sich als stolz und fleißig und siegreich erwiesen hat – aber sich eben auch als besser empfindet und sich damit über die Umgebung erhebt“, umreißt Layera den Grundgedanken des Stücks, das jedoch nicht nur von Bayern handelt. „Dieses Narrativ dient in Chile ebenso zur Identitätsbildung. In vielen westlichen Gesellschaften funktioniert das genauso. Wir selbst sind besonders arbeitsam, bescheiden und gastfreundlich und insgeheim besser als alle anderen. In meiner Kindheit hat man mir beigebracht, die Chilenen seien ‚die Jaguare Lateinamerikas‘. Wir seien die Europäer in Südamerika und würden über allen übrigen Staaten des Kontinents stehen. Das sagt viel darüber, aus was für einem machistischen, klassistischen und rassistischen Land ich komme.“

„Im Rest der Welt stehen Bayern und die bayerische Kultur häufig für ganz Deutschland. Besonders in Lateinamerika ist das so“, erklärt Layera. In ganz Südamerika gibt es deutsche Siedlungen, vor allem aber im Süden Chiles. „Daher sind den Menschen dort die als deutsch angesehenen, vorwiegend bayerischen Bräuche, die Architektur, die Kleidung oder das Essen vertraut.“ Eine der größten Siedlungen ist die frühere „Colonia Dignidad“. Sie erreichte aufgrund ihrer Rolle während der Pinochet-Diktatur und dem Sektengründer Paul Schäfer traurige Berühmtheit. Sie wurde inzwischen in „Villa Baviera“ umbenannt und wird touristisch genutzt. „Eigentlich müsste das ja ein Ort des Gedenkens an die Grausamkeiten sein, die dort geschehen sind“, sagt Layera. Erinnert wird jedoch nur in einer heruntergekommenen Scheune. Gefeiert wird stattdessen überall: Zur Vorbereitung für das Projekt sind er und Valdés-Stauber dort hingefahren und waren über die Menschenmengen in Partylaune verwundert. „Als Kind hatte ich immer ein bisschen Angst, wenn man nur mit dem Auto an dem Gelände vorbeifuhr. Aber seitdem hat mich diese seltsame deutsche Sekte interessiert“, erinnert sich Layera.

Tatsächlich könnte „Mia san Mia“ überall spielen. Deswegen ist die Handlung in einer nicht näher definierten Zukunft angesiedelt, auf einem kargen und lebensfeindlichen Wanderplaneten, auf dem bayerisches Brauchtum zelebriert wird. Dieser Planet wird von waghalsigen Touristen besucht. Außerdem schaut ein Gutachter vorbei, der über die grundsätzliche Weiterführung der Siedlung befinden soll. Die unterschiedlichen Gruppen umkreisen einander in den Szenen, die manchmal über Dialoge funktionieren. In erster Linie aber ohne Sprache, ausschließlich über Körper, Bilder und Choreografien. „Wir wollten uns vom dokumentarischen Abbilden von Realität lösen“, fasst Martín Valdés-Stauber zusammen. „Marcos letzte Arbeit hier an den Kammerspielen war dokumentarisch, jetzt ging es uns mit dem Ensemble der Münchner Kammerspiele und Kollegen aus Chile um das poetische Erzählen über Bilder und in Gedankenspielen.“ Das dürfte auch für Valdés-Stauber eine Herausforderung gewesen sein, der virtuos mit Worten umgeht und mit Maxi Schafroth gemeinsam die Fastenpredigt für den Nockherberg schreibt.

Marco Layera und Martín Valdés-Stauber wollen die immer gleichen, hegemonial wirkenden Strukturen aufzeigen: „Das Territorium, das Blut, das Konzept der Familie. Dieses Verständnis von Identität ist immer monolithisch. Da fließt nichts, das lässt sich nicht durchdringen.“ Reaktionäre Stimmen gibt es inzwischen an vielen Orten der Welt. Das Anliegen der beiden Theatermacher ist es, den Blick des Publikums darauf zu schärfen. Sie wollen eine ästhetische Überhöhung schaffen, die jeden Einzelnen im Zuschauerraum dazu zwingt, über sich selbst nachzudenken.

„Unser Bild von Bayern ist sehr komplex“, versichert Valdés-Stauber. Während Layera mit dem Blick von außen auf die Dinge sieht, hat Valdés-Stauber zwei Perspektiven. „Zweisprachig in Kaufbeuren aufgewachsen, da kann man immer dazugehören, gleichzeitig aber auch mit einem gewissen Abstand reflektieren.“ Ihr gemeinsamer Blick aufs bayerische Brauchtum ist daher durchaus differenziert. „Wir wünschen uns eine bayerische Identität, die offen ist für Einflüsse von außen, die sich weiterentwickelt. Bayern darf sich nicht verschließen vor der Zukunft, vor den Einflüssen von außen. Nur durch Austausch bleibt es lebendig. Bayerische Identität, das ist nicht rückwärtsgewandt, sondern eben auch der Münchner Hauptbahnhof 2015, als die Geflüchteten kamen.“
ULRIKE FRICK

Premiere

ist heute, 20 Uhr; weitere
Informationen und Karten unter www.kammerspiele.de.

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