Mensch sein. Mensch bleiben

von Redaktion

Ein bewegender Abend im NS-Dokuzentrum mit Marcel Reif und Noam Brusilovsky

Das Podium: Noam Brusilovsky, Marcel Reif und die Journalistin Alexandra Nocke (v.li.), die durch den Abend führte.

Engagierter Theatermacher: der Autor und Regisseur Noam Brusilovsky ist in Israel geboren und lebt seit vielen Jahren in Berlin.

„Ich habe lange gebraucht, bis ich mich wirklich mit der Geschichte meines Vaters beschäftigen konnte“, sagt Marcel Reif. © Astrid Schmidhuber (3)

Er hat lange überlegt, ob er die beiden überhaupt mitnimmt. Ob die Rede, die er zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ Ende Januar im Deutschen Bundestag gehalten hat, die Kinder nicht überfordern würde. Die Familie entschied sich schließlich dafür, dass alle zusammen hingehen. Und was passierte? Die zwölfjährigen Enkel von Marcel Reif, Zwillinge, haben den Worten ihres Opas gelauscht, sind nach der Veranstaltung ins Auto gestiegen – und sofort eingeschlafen. Sie waren erschöpft. Berührt. Und hatten später ganz viele Fragen.

Marcel Reif, Sohn eines polnischen Juden, der den Holocaust nur knapp überlebte, erzählt diese kleine persönliche Anekdote am Donnerstagabend im NS-Dokumentationszentrum, wo das Buch „Woran denkst Du, wenn Du an Israel denkst? Woran denkst Du, wenn Du an Deutschland denkst?“ vorgestellt wurde. Die Herausgeberinnen Alexandra Nocke und Teresa Schäfer haben dafür Interviews mit 35 Menschen geführt, die in der Öffentlichkeit stehen und aus unterschiedlichen Perspektiven auf beide Länder sowie die aktuelle Weltlage blicken. Unter ihnen Fußball-Kommentator Marcel Reif.

„Sei ein Mensch“ – diese drei Worte habe sein Vater ihm mitgegeben am Ende seines Lebens. So erzählte es Reif Anfang des Jahres bei seinem viel beachteten Auftritt im Bundestag und wiederholt es nun in München. Darum gehe es doch: Mensch sein, Mensch bleiben. Das sei die Lösung. Was aber gerade in der Welt passiere, vor allem in Gaza, das sei das genaue Gegenteil: unmenschlich.

Marcel Reif hat spät, im Grunde erst anlässlich seiner Rede im Bundestag, angefangen, sich zu seiner Familiengeschichte zu äußern, zumindest öffentlich, und sich mit ihr zu beschäftigen. Sein Vater wollte nicht sprechen, erzählt der Wahl-Münchner. Vor allem, weil er nicht wollte, dass sein Sohn diese Last mitträgt. Er sollte nach dem Willen der Eltern ein unbeschwertes Leben führen können, so der 74-Jährige, in dem die Frage nach der Farbe der Autositze die wichtigste sein durfte. Erst nach dem Tod des Vaters habe er mit seiner Mutter in die Kiste der so grausamen Vergangenheit geschaut.

Und dann sei der Gedanke immer lauter geworden, die zweite Generation, also Menschen wie er, müssen (!) die erste ablösen, um die Erinnerung wachzuhalten. Sonst würden die Geschehnisse nur ein „geschichtliches Datum“ bleiben, an dem Menschen sich für Festakte den Anzug anziehen, betroffen schauen würden, ein Streichquartett spiele – und dann? Nein, die Ereignisse dürften nicht „abgeheftet“ werden, sagt Marcel Reif. Deswegen: „Du musst was sagen.“

Noam Brusilovsky sitzt auch mit auf dem Podium im NS-Dokuzentrum, er ist wie Reif einer der Protagonisten aus dem Interview-Buch und spricht ebenfalls sehr eindrücklich über seine Erfahrungen. Der 7. Oktober 2023, als die Hamas Israel überfiel, habe sein Leben „komplett verändert“, so der deutsch-israelische Theater- und Hörspielmacher (sein Rechercheprojekt „Mitläufer“ läuft am 25. Oktober wieder im Marstall). „Dieser Krieg ist eine Schande“, sagt der 35-Jährige und geht mit der politischen Führung um Benjamin Netanjahu hart ins Gericht. „Diese Regierung von rechtsradikalen Verbrechern – eine Katastrophe.“ Er fühle zum ersten Mal in seinem Leben, dass er, der Israeli, „aus einem Täterland“ komme.

Was also tun? Mit Blick auf die jüngsten Wahlergebnisse sagt Marcel Reif: „Man muss dagegenhalten. Wir müssen aufpassen.“ Und im Gespräch bleiben. Mit allen Generationen. Angefangen bei den Enkelkindern.
STEFANIE THYSSEN

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