Trifft den Ton der Zeit: Autorin Nora Bossong. © Thomas Frey
Die spätere Vorzeigefamilie des „Dritten Reichs“: Magda und Joseph Goebbels bei ihrer Hochzeit im Jahr 1931 in Berlin. Neben dem Brautpaar Magdas Sohn Harald aus ihrer ersten Ehe mit Günther Quandt. Sechs gemeinsame Kinder sollten folgen. © AKG Images
Die Frau, von der hier die Rede ist, sollte als Ehefrau von Hitlers Chefpropagandist Joseph Goebbels in die Geschichte eingehen, doch dieses Buch ist viel mehr als die Geschichte der Magda Goebbels (1901–1945), es ist vielmehr ein Porträt der Zeit vom Beginn der Weimarer Zeit bis in die letzten Monate des „Dritten Reichs“. Auf das Ende dieser Frau, die ihre sechs Kinder tötete, bevor sie zusammen mit ihrem Mann Selbstmord beging, verweist nur ein achtzeiliger Nachsatz. Das gereicht der Autorin zur Ehre.
Nora Bossongs Buch „Reichskanzlerplatz“ endet 1944 mit dem Stauffenberg-Attentat und dessen Auswirkungen auf den Ich-Erzähler Hans, einen fiktiven ehemaligen Mitschüler von Magdas Stiefsohn Hellmut Quandt (1908–1927). Aus der Perspektive von Hans sieht man Magda und ihren im Roman fast nie direkt auftretenden ersten Ehemann Günther Quandt (1881–1954). Dabei ist Bossongs Werk beileibe keine Biografie der historischen Personen. Im Grunde bietet es kaum mehr Informationen als Lexikonartikel – sie sind jedoch sehr geschickt verteilt und zum Teil in die Dialoge eingebaut.
Der Roman setzt im Jahr 1919 ein. Ich-Erzähler Hans bekommt einen neuen Klassenkameraden namens Hellmut Quandt, dessen Mutter an der spanischen Grippe verstorben ist. Nicht lange danach heiratet der Vater die junge Magda Ritschel, die keine sieben Jahre älter ist als ihr neuer Stiefsohn Hellmut.
Über den Kondolenzbrief für den Tod der Mutter kommen die beiden Gymnasiasten sich näher. So klärt Hellmut seinen Freund Hans über Magdas früheren Namen auf: „Davor [= vor Ritschel] hieß sie Friedländer… Ihr Stiefvater ist Jude und einen besseren Namen hat sie nicht abbekommen… Wir haben nichts gegen Juden, aber in der eigenen Familie muss es ja nicht sein. Die Leute reden. Und wir müssen eben immer auch an die Geschäfte denken.“ Das ist Antisemitismus pur, den Bossong dem Elfjährigen in den Mund legt. Und der Leser fragt sich, wo der Junge diese zynische Menschenverachtung wohl aufgeschnappt haben mag.
Die historische Magda hatte vor ihrer ersten Ehe drei Nachnamen. Als uneheliche Tochter eines Dienstmädchens hieß sie zunächst „Behrend“ nach ihrer Mutter, dann „Friedländer“ nach ihrem jüdischen Stiefvater, der ihre Mutter geheiratet und sie adoptiert hatte, später „Ritschel“ nach ihrem Vater. Erst dieser dritte Name ebnete den Weg für die Heirat mit dem Industriellen Günther Quandt. Für ihn konvertierte sie schließlich auch von der katholischen Kirche zum Protestantismus. Nach der Scheidung von Quandt ging sie die Ehe mit Goebbels ein.
Der Roman setzt Magdas zwei Ehemänner anhand zweier Thesen zueinander in Opposition. „Mit Staaten baut man keine Imperien mehr auf“, lautet die erste. Dieses Axiom lässt Bossong den jungen Hellmut Quandt sagen und damit Wirtschaftsmacht weit höher bewerten als Politik und Militär. Ins gleiche Horn stößt Hellmut, wenn er behauptet, dass natürlich auch der Krieg „heute nicht mehr im Generalstab entschieden werde, sondern zwischen Unternehmer und Ingenieur.“ Aus dem Mund des Schülers klingt das, als habe er schlichtweg die Ansichten seines Vaters Günther Quandt nachgeplappert.
Die Gegenthese dazu vertritt „Madame Quandt“, wie Hellmut seine Stiefmutter nennt, um nicht „Mama“ zu ihr sagen zu müssen: „Weltreich? Er [= Günther Quandt] ist Monopolist. Mit Unternehmen baut man kein Reich.“ Man müsse für eine Idee brennen, sonst sei das Leben nichts wert, nur ein leeres Warten auf den Tod. Diese Sätze kommen im Buch von Magda Quandt kurz, bevor sie sich mit Hans auf eine außereheliche Affäre einlässt, die zur Scheidung von dem Wirtschaftsmagnaten führen wird. Sie erstreitet die luxuriöse Siebenzimmerwohnung am Reichskanzlerplatz als Abfindung, lange bevor sie ihren späteren Mann Joseph Goebbels kennenlernt. In Magdas Ansichten spiegelt sich Verachtung für den ersten Ehemann, Sehnsucht nach „politischer Großmacht“, aber auch nach einem Sinn im eigenen Leben. Sie kommen der Ideologie ihres zweiten Mannes schon sehr nahe.
Später wird sie als Magda Goebbels auch die Notwendigkeit des Opfers betonen, das erfahrungsgemäß mit solch heroischen Plänen verbunden ist. Als sie Hans vom Streit mit Quandt berichtet, der nicht damit einverstanden ist, dass ihr gemeinsamer Sohn Harald als Hitlerjunge herausgeputzt werde, kommentiert sie dies lapidar mit: „Er (= Harald Quandt) leistet seinen Beitrag. Glaub nicht, dass wir bevorzugt werden. Wir bringen alle unsere Opfer.“ Und dann erzählt sie im nächsten Atemzug „knapp und emotionslos“, dass man ihren Adoptivvater Richard Friedländer nach Buchenwald gebracht habe (wo er nach der Zwangsarbeit im Steinbruch an einer „Lungenentzündung“ sterben wird). Damit gibt sie Hans zu verstehen, dass sie ihn genauso leicht fallen lassen könnte, weil er als Homosexueller nicht mehr ins System passt.
Nora Bossong hat Motive, Thesen und Handlungsstränge sehr geschickt ineinander verwoben, indem sie die Punkte, die sie am Anfang des Romans antippt, irgendwann wieder aufgreift. Sprachlich ist der Roman wunderbar gestaltet. Er trifft den Ton der Zeit. Den Widerstreit der beiden Thesen hat die Geschichte entschieden.
HILDEGARD LORENZ
Nora Bossong:
„Reichskanzlerplatz“. Suhrkamp Verlag, 298 Seiten; 25 Euro.