Goethe spiegelte eigenes Erleben in seinem Roman „Werther“, das er jedoch zugleich radikalisierte. © Paul Zinken/dpa
„Werther“ am Münchner Residenztheater: Johannes Nussbaum ist am 12. Oktober wieder in der Titelrolle zu erleben. © Sopcic
Nur selten und wenn, dann mit Handschuhen darf die Erstausgabe von Goethes „Die Leiden des Jungen Werthers“ im Museum Lottehaus im hessischen Wetzlar aus der Vitrine genommen werden. © Boris Roessler/dpa
Eine zähe, unglückliche Liebesgeschichte oder ein Geniestreich? Ein authentischer Ausdruck von vermeintlich ungehörigen Gefühlen oder ein Werk, das Menschen in den Tod treibt? Die Meinungen zu „Die Leiden des jungen Werthers“ gingen schon zu Lebzeiten des Autors auseinander. Dennoch wirkt Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) erster Roman bis heute nach – obwohl das Werk heuer 250 Jahre alt wird. Das nach wie vor rege Interesse an dem Buch hat mehrere Gründe.
„Der Werther hat so viel Substanz und er ist immer noch hochmodern. Bei Goethe kann man mit jedem Satz etwas machen“, schwärmt Mario Leis. Als Autor des bekannten Reclam-Lektüreschlüssels für den Werther hat sich der promovierte Literaturwissenschaftler und Lehrer eines Berufskollegs besonders intensiv mit dem Briefroman und der schulischen Vermittlung beschäftigt. Leis weiß: Zu Zentralabitur-Themen gehört der „Werther“ aktuell zwar nicht, aber das Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München empfiehlt die Lektüre etwa für die elfte Klasse. Ebenso steht das Buch auf Empfehlungslisten als Schullektüre anderer Bundesländer, vor allem als Beispiel für ein typisches Werk der Epoche des Sturm und Drang.
Allein Zahlen des Reclam-Verlags sprechen dafür, dass das Werk nicht aus dem Deutschunterricht verschwindet: Der Roman kratzt bei den Verkaufszahlen immer wieder an den Top Ten der Reclam-Klassiker. Seit 1948 wurden allein in der gelben ReclamReihe weit mehr als drei Millionen Exemplare verkauft. Dazu kommen noch zig Ausgaben anderer Verlage.
Dass die Schülerschaft ihre Begeisterung für den „Werther“ längst nicht immer teilt, ist dem Germanisten Leis klar: „Wir sind in einem Paradigmenwechsel: Die Schüler haben immer mehr Distanz zu Büchern.“ Die Literaturprofessorin und Direktorin des Frankfurter Goethe-Hauses, Anne Bohnenkamp-Renken, ergänzt: „Das Problem beim Werther aus heutiger Sicht ist ausgerechnet die Sprache.“
Bei der Erstveröffentlichung habe das Werk den Zeitgeist getroffen. Zuvor habe es sich schlicht nicht geschickt, so zu schreiben. „Die Sprache war damals auch ein Grund für den ungeheuren Erfolg des Romans, inzwischen hat sich diese aber deutlich von uns entfernt und zündet nicht mehr so leicht“, sagt Bohnenkamp-Renke. Als der Briefroman 1774 erschien, hatte sich Goethe schon einen Namen mit dem „Götz von Berlichingen“ gemacht. Der Werther aber wurde sein Durchbruch. „Er ist ein europäisches Phänomen, wird auf Französisch und Italienisch übersetzt“, sagt Christian Hain, Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar. Schon ein Jahr später folgte eine zweite Auflage, Raubdrucke verbreiteten sich. „Alle Welt hat es gelesen, es gab Fan-Artikel, Handschuhe und Tassen, man zog sich an wie Werther, trug blaue Mäntel und gelbe Westen.“ Es sei eine Art „Cosplay-Trend“ gewesen, so wie sich heute Fans etwa bei Messen als Comic- oder Filmfiguren verkleideten. Hain sieht darin einen Ansatz, um den „Werther“ ins Jetzt zu holen. „Man kann zeigen: Das, was ihr dort mit ,Harry Potter‘ und anderem macht, das haben sie damals mit dem ,Werther‘ gemacht.“
Genauso zieht der ArchivDirektor Parallelen zwischen „Wertheriaden“, also Werken, die sich am Original orientierten, und heutiger Fanfiction, bei der Fans, etwa von Büchern oder Filmen inspiriert, eigene Geschichten erfinden. Wobei im Laufe der Zeit einige bedeutende „Wertheriaden“ entstanden und Ulrich Plenzdorfs in der DDR angesiedelte Adaption „Die neuen Leiden des jungen W.“ sogar Schullektüre wurde.
Zum Hype seinerzeit gehörten Spekulationen, wie viel Goethe in der Figur Werther steckt. Hain spricht von einer „wahnsinnigen Verflechtung“ von Goethes eigener Biografie und unglücklicher Liebe sowie der Selbsttötung eines Bekannten des Autors. „Goethe bringt im ,Werther‘ offensichtlich etwas zum Ausdruck, das er selbst erlebt hat, gleichzeitig radikalisiert er es aber im Roman“, sagt Bohnenkamp-Renken. Sie verweist dabei auch auf Goethes eigenes problematisches Verhältnis zu den seinerzeit geltenden gesellschaftlichen Spielregeln.
Gerade der Suizid der Hauptfigur brachte Goethe allerdings auch viel Kritik ein. Autoritäten waren alarmiert, warfen dem Autor vor, die Selbsttötung gutzuheißen. In manchen Regionen wurde das Werk zensiert oder ganz verboten. Tatsächlich ist auch heute vom „Werther-Effekt“ die Rede als Begriff für den inzwischen wissenschaftlich nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Medien-Berichterstattung über Suizide und einem Anstieg der Vorfälle.
Bohnenkamp-Renken und Historiker Hain halten es derweil aber für schwierig zu sagen, das Buch habe eine Suizidwelle ausgelöst. Wohl habe es seinerzeit Suizide gegeben, die auf einen Zusammenhang hindeuteten. Zumindest durch Quellen könne aber kein massiver Effekt belegt werden.
Nachgewiesen ist dagegen die anhaltende Bedeutung des Stoffs durch immer wieder neue Adaptionen in Theater und Film, etwa am Bayerischen Staatsschauspiel (siehe Kasten). Übrigens: Auch mit Blick auf den globalen Konsummarkt ist der Werther präsent: Der Gründer des großen koreanischen Mischkonzerns Lotte benannte sein Unternehmen nach Werthers Liebe.
MARIE FRECH