Nur optisch im Streikmodus: Teile des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks am Donnerstagabend im Herkulessaal. Die Musikerinnen und Musiker informierten das Publikum vor Konzertbeginn über ihre Tarifverhandlungen. © Eric Dietenmeier
Eine Passion zur Wiesn-Zeit? Das befremdete zwar, hielt aber viele Musikfreunde nicht davon ab, in den Herkulessaal, zur Aufführung der Matthäus-Passion zu pilgern. Wo sogleich die nächste Irritation folgte: Einige Musiker des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BRSO) sowie Mitglieder des BR-Chores erschienen in gelben Warnwesten und intonierten – ohne den Mann am Pult – den Schluss-Choral der Passion: „Wir setzen uns mit Tränen nieder“.
Doch die Info ließ nicht lange auf sich warten: Zwei Gewerkschaftsvertreter von „Unisono“ erläuterten, dass die Qualität der BR-Klangkörper auf dem Spiel stehe, weil die seit Januar geführten Tarifverhandlungen mit dem Rundfunksender stagnierten. Während das Bayerische Staatsorchester – ein Spitzenensemble wie das BRSO – von Januar 2025 an zwölf Prozent mehr Gehalt bekomme, seien den BR-Symphonikern lediglich 4,7 Prozent angeboten worden. Die Gewerkschafter sprachen von Fachkräftemangel und rückläufigen Bewerberzahlen.
Dem Streikaufruf ihrer Gewerkschaft folgten Musiker und Sängerinnen am Donnerstag jedoch nicht. Sie wollten „ihrem treuen Publikum“ die während Corona-Zeiten abgesagte Matthäus-Passion endlich nachreichen.
Simon Rattle, in historisch informierter Aufführungspraxis ebenso zu Hause wie in Klassik, Romantik oder Moderne, konnte sich bei diesem Bach’schen MammutUnternehmen auf seine stilsicheren, wendigen Mitstreiter verlassen. Aufgesplittet in zwei Orchester, zwei Chöre und unterstützt von den Augsburger Domsingknaben, vier Solisten, zwei Organisten und den Kollegen an Theorbe und Viola da Gamba (!), berichteten die BR-Ensembles höchst eindringlich vom Passionsgeschehen. Dabei gelang Rattle schon im überwältigenden Eingangschor eine oft szenisch-theatrale Umsetzung, die er keineswegs übertrieb, die aber entscheidende Momente prägte. Packend in den kurzen, prägnanten, dissonanten Aufschreien des Volkes im zweiten Teil. Blitze und Donner brachen zunächst für den Chor fast zu unvermittelt herein, doch er fand schnell in den Furor dieses Augenblicks.
Auch in den Chorälen setzte Rattle auf einen leichten Fluss und eine sinnstiftende Textbehandlung. Der von Peter Dijkstra einstudierte BR-Chor und die von Stefan Steinemann geleiteten Augsburger Domsingknaben bestanden alle Herausforderungen souverän.
Und die BR-Symphoniker agierten im Tutti wie als wunderbare Solisten auf gewohnt hohem Niveau. Rattle rückte dem Orchester II zuweilen so ungewohnt nah, dass er den Gesangssolisten im Rücken stand. Ein Signal für beglückendes, gemeinsames Musizieren.
Bei den Sänger-Solisten stand Georg Nigl mit seinem ebenso kultivierten wie ausdrucksstarken Bariton als Jesus nicht nur optisch im Mittelpunkt. Dass Mark Padmore, zweifellos ein vorzüglicher Stilist, als Evangelist doch in die Jahre gekommen ist, war zu hören. Hell und frisch klang daneben der Tenor von Andrew Staples, der koloraturgewandt und intensiv seine Arien gestaltete. Mit instrumental geführtem, zartem Sopran sorgte Camilla Tilling für innige Momente, während Magdalena Kožená mit leider nicht so ausgeglichenem Mezzo oft opernhaft wirkte. Roderick Williams punktete mit angenehmem Bass.
GABRIELE LUSTER