Enorme schauspielerische Leistung: Katharina Bach gestaltet „Fremd“ von Michel Friedman in den Münchner Kammerspielen als großen, emotionalen Monolog. © Sima Dehgani
Da ist kaum Platz. Der Eiserne Vorhang ist geschlossen im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele, nur ein schmaler Steg bleibt Katharina Bach auf der Bühne. Die Tür in der Metallwand ist ebenfalls zu – der Ausweg, den sie verspricht, bleibt Behauptung. Erst am Ende, als der Protagonist in „Fremd“ die Liebe kennenlernt, wird sie für einen lichten Moment aufgehen.
Zunächst und die meiste Zeit jedoch ist da eine enorme Enge. Und damit nicht genug. Als Bach aus dem Zuschauerraum hinauf auf ihre schmale Spielfläche tritt, muss sie sich den Platz mit einem Podest teilen. Sie erklimmt es – und die Einsamkeit ihrer Figur wird noch offensichtlicher: ringsum nichts als Abgrund. Dann schnurrt der Lichtkegel so weit zusammen, dass er die Schauspielerin gerade erfasst. Es ist klaustrophob. Denn hier wird mit den Mitteln des Theaters spürbar, wovon Michel Friedman in „Fremd“ schreibt.
Vor zwei Jahren hat der Publizist dieses Buch, das vielleicht sein persönlichstes ist, vorgelegt. Ein Prosatext, sprachlich knapp und prägnant, emotional dafür umso wuchtiger. Im Jahr 1956 wurde Friedman in Paris geboren, als Staatenloser. Seine Eltern, polnische Juden aus Krakau, überlebten die Shoah, sie standen auf Schindlers Liste. In Frankreich hatte die Familie Schutz gesucht und zog schließlich nach Deutschland – zum Unverständnis des Kindes.
In „Fremd“ erzählt und reflektiert Friedman sein Aufwachsen, seine Geschichte und die seiner Eltern, die „gesehen haben, was Hölle ist“, wie es an einer Stelle heißt. Zugleich schlägt er auf den mehr als 160 Seiten immer wieder den Bogen weg vom Biografischen hin zum Allgemeingültigen.
Das ist die Stärke dieses Buchs: Die Lektüre macht die Gefühls- und Gedankenwelt von Menschen erfahrbar, die aus irgendeinem Grund „fremd“ in einer Mehrheitsgesellschaft sind. Sprachlich ist dieses Werk auch deshalb so aufregend, weil der Autor seine 54 Kapitel wie ein langes Gedicht konzipiert hat, stilistisch auf der Klaviatur der Lyrik spielt und somit die mitunter brutale Wirklichkeit, die hier verhandelt wird, enorm verdichtet.
Am Berliner Ensemble ist „Fremd“ im vergangenen Oktober als inszenierte Lesung mit Sibel Kekilli herausgekommen. Nun haben in München die Schauspielerin Katharina Bach und die Regisseurin Katrin Lindner aus dem Text einen starken Theaterabend gemacht, der zweifellos ein Höhepunkt dieser noch jungen Spielzeit ist. Am Donnerstag war im Beisein des Autors und seiner Familie Premiere an den Kammerspielen, die – völlig zu Recht – mit Standing Ovations gefeiert wurde.
Es ist Katharina Bachs Abend, die hier einmal mehr ihre schauspielerischen Qualitäten zeigen kann. Mit großer Empathie und einem wunderbaren Sprachbewusstsein gestaltet sie diesen Monolog. Da sie obendrein eine sehr körperliche Schauspielerin ist, kann sie sekundenschnell die Figuren wechseln. Zudem spiegelt sich der emotionale Zustand der Charaktere immer auch in Bachs Haltung. So verliert sie in den 105 Minuten nie die Aufmerksamkeit und Konzentration des Publikums. Bach und Lindner schaffen es vielmehr, den Text sehr heutig und unaufgeregt an die Zuschauerinnen und Zuschauer heranzutragen, auch, indem das Parkett zur erweiterten Spielfläche wird.
Das Duo hat „Fremd“ behutsam gekürzt, sehr genau gelesen und auch jene Stellen entdeckt, die nicht vom „Lebensgefährten Angst“ erzählen. Da gibt es beispielsweise eine wunderbar sachte Schilderung, wie Friedmans Eltern vor dem Nazi-Terror durch Krakau spazieren – und sich in aller Öffentlichkeit küssen! Andere Szenen, die trotz aller Verzweiflung von großer Behutsamkeit und Zuneigung künden, sind jene, in denen die Eltern altern und schließlich sterben. Bach lässt solche fein hingetupften Stellen auf Momente der Ausgrenzung – in Behörden und Ämtern, auf dem Schulhof und in der Straßenbahn – knallen.
Neben der Leistung der Schauspielerin zieht die Inszenierung aus eben diesem Ansatz ihre Spannung. Das macht sie – jenseits ihrer humanistischen Botschaft – als Theater so gut und wichtig.
MICHAEL SCHLEICHER
Nächste Vorstellungen
am 7. Oktober und 9. November;
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