NEUERSCHEINUNG

Lebenslügen über den Holocaust

von Redaktion

Olga Grjasnowas spannender, erhellender Roman „Juli August September“

Olga Grjasnowa, Jahrgang 1984, stammt aus dem aserbaidschanischen Baku und lebt in Berlin. Seit 2023 ist sie außerdem Professorin am Institut für Sprachkunst der Universität für angewandte Kunst Wien. © Valeria Mitelman

„Ich wusste einfach nicht, wie man ein Kind auf Deutsch liebte.” In diesem stillen Bekenntnis sich selbst gegenüber ist das Dilemma der Ich-Erzählerin Lou im Roman „Juli August September“ von Olga Grjasnowa zusammengefasst. Es sind nicht die Probleme, die Lou etwa mit ihrem kleinen Mädchen Rosa hätte; nicht jene, die sie in ihrer Ehe mit Sergej, einem gefeierten Pianisten, zu spüren meint; auch nicht ihr innerer Konflikt mit der Verwandtschaft, die aus Israel nach Gran Canaria angereist ist samt der 90-jährigen Jubilarin, die, weil sie in einem Preisausschreiben eine Reise auf die Insel gewonnen hat, dort ihren Geburtstag feiern will.

Russische, nicht religiöse Jüdin

Nein, es kommt alles zusammen. Wer eigentlich ist sie selbst? Eine russische, in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, damals noch eine der Sowjetrepubliken, geborene Jüdin, die als Kind mit den Eltern in die Bundesrepublik Deutschland kam? Eine junge Frau, die überhaupt nicht religiös empfindet? Deren kleine Rosa eine Deutsche ist? Und ihr Mann, der Künstler, ebenfalls ein russischer Jude? Auf jeden Fall eine arrivierte Familie mit Altbau-Eigentumswohnung im feinen Westen von Berlin. Ein Leben zwischen Konzertsälen, Galerien und musikalischer Früherziehung fürs Kind.

Der erste Hieb mit der Peitsche des Zweifels schlägt der jungen Frau ins Gesicht, als ihre Tochter bei einem Kinderbesuch ein Buch vorgelesen bekommt, in dem es um den Holocaust geht und sie nichts davon versteht, außer dass ein Hitler in dieser Geschichte der gute Held gewesen sei. Entsetzen bei den Eltern über dieses kindliche Missverständnis und die Überlegung, vielleicht doch einmal mit Rosa eine Synagoge zu besuchen und entsprechende Kinderbücher zu besorgen, um sie langsam an die Wirklichkeit heranzuführen. Doch ehe es so weit ist, fliegen Mutter, Tochter und Großmutter auf die Kanaren, um den Neunzigsten der Großtante zu feiern, alle zusammen, mit der ganzen Mischpoke. Natürlich geht das nicht gut aus. Misstrauen, Neid, Lebenslügen, Hochmut, Verklärung, Bosheiten, Verdächtigungen und, ja, auch ein bisschen Liebe. Verärgert düst die Großmutter mit der Enkelin vorzeitig wieder nach Berlin. Lou fliegt allein statt in die deutsche Hauptstadt ins heiße Tel Aviv, um dort die Verwandten noch einmal zu treffen, vor allem die neunzigjährige Tante nach ihrer vermeintlichen Lebenslüge zu befragen. Denn von Judenverfolgung, Flucht und Holocaust ist die gesamte, so verschwiegene altsowjetische Familie betroffen. Aber wo liegt die Wahrheit jedes einzelnen Familienmitglieds? Wo liegt die Wahrheit der nachfolgenden Generationen?

Autobiografisches fließt mit ein

Olga Grjasnowa, die vermutlich Autobiografisches hier hat mit einfließen lassen, ist ein guter, zeitbezogener, gesellschaftspolitischer Roman gelungen. Wenn man zwar auf den ersten 30 Seiten glauben mag, schon wieder eine der vielen mehr oder weniger nichtssagenden Erzählungen über wohlstandsfrustrierte Mütter vor sich zu haben, erweist sich ein solcher Verdacht glücklicherweise als Irrtum. Grjasnowa seziert mit großer Erzählkunst die immer dichter werdenden Widersprüche in der Identität des russisch-jüdischen-deutschen Lebens heute. Und das auf spannende, unterhaltsame, erkenntnisstiftende Weise. Ironie und Zynismen inbegriffen.
SABINE DULTZ

Olga Grjasnowa:

„Juli August September“. Hanser Berlin, 224 Seiten; 24 Euro.

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