Franz Welser-Möst gastiert in München. © Wikimedia
Eines habe er von seinem Vater Arvids gelernt, und das erzählte der 2019 verstorbene Mariss Jansons oft seinem BR-Symphonieorchester weiter: nie Zucker in den Honig geben, gerade und erst recht bei Tschaikowsky. Um dann, der Mann war ja Ästhet und Teilzeitkulinariker, doch für ein gehaltreiches bis saftiges Klangbild zu sorgen – aber eben ohne Verfettungsgefahr. Franz Welser-Möst geht da in der Isarphilharmonie noch einen Schritt weiter. Tschaikowskys fünfte Symphonie, Schlachtross des Repertoires, tönt nach Yoga-Stunde. Sehnig und gelenkig, schlackenlos, mit Schnellkraft, ohne jegliches Imponiergehabe. Man merkt den BR-Symphonikern etwas an, wie ungewohnt die Sichtweise des Gastdirigenten ist. Nicht alles ist da anfangs auf Kante gespielt (vielleicht an diesem Samstag beim dritten Abend). Auch weil Welser-Möst zügige Tempi einfordert. Schon der Kopfsatz wird mit enormem Zug und Brio aufgerollt. Diese Fünfte gefällt sich nicht selbst, sondern strebt davon. Um im ersten Satz wie unschlüssig abzubrechen und die Apotheose des Finales „nur“ als weichen, eleganten Triumph auszukosten.
Ein „Verweile doch“, ein Suhlen in Melos und Effekt, gibt es bei Welser-Möst nicht. Verbremsungen werden immer als geschmackvolle, kleine Rubati gestaltet. Im langsamen Satz mit dem hier butterzart-lyrischen Horn-Solo erlebt man Melancholie, aber kein Sentiment. Trotz aller klanglichen Expansion, trotz des druckvollen Treibens erzielt Welser-Möst Leichtigkeit und Transparenz. Man hört die klassischen Ideale durch, denen Tschaikowsky huldigt – aber auch die Modernität, zu der sich die romantische Symphonik entwickeln wird.
Zum Beispiel hin zu Prokofjews zweiter Symphonie. Als Einspielstück vor der Pause taugt der wilde 35-Minüter kaum. Das Orchester bekommt in der Dauer-Erregung einiges zu ackern. Welser-Möst facht das Geschehen gerade im ersten der beiden Sätze nicht noch an, sondern bleibt ein gutes Stück vor dem Siedepunkt. Die verschiedenen musikalischen Ereignisse sind daher ort- und nachvollziehbar. Eine Deutung, die man auch im größten Orchestergetümmel, erst recht in den Variationen des zweiten Satzes, mitstenografieren könnte. Die Symphonie bekommt keinen Drall ins Hypergroteske (zu dem die Partitur ständig einzuladen scheint), sondern wird bei Welser-Möst domestiziert. Womit das Beste passiert bei diesem unbekannten Stück: Man lernt es zu verstehen.
MARKUS THIEL