Amerikanischer Albtraum

von Redaktion

Franz Kafka an den Kammerspielen

Ein reizvolles Stimmungsgemisch aus Komik und Melancholie bietet der Abend – vor allem dank herausragender Akteure wie hier Jelena Kuljic (li.) und Maren Solty. © Gabriela Neeb

Freiheitsstatue? Wie viel Freedom die USA den Menschen tatsächlich bringen, hinterfragt die Inszenierung. Hier: Schauspieler Philipp Plessmann. © Gabriela Neeb

Die Freiheitsstatue spielt Klavier und singt dazu den Hit „New York, New York“ auf Tschechisch. Der jugendliche Protagonist wiederum trägt eine weiße Plüschkatze im durchsichtigen Rucksack mit sich herum, und die Millionäre in Glitzeranzügen haben Engelsflügelchen sowie quietschbunte Turmfrisuren, die an Marshmallows erinnern. So kennt man es, so liebt man es: Amerika (die USA), das Disneyland der unbegrenzten Möglichkeiten an Geschmacksverirrung, wo man nicht weiß, wer realer ist, Dagobert Duck oder Donald Trump; die Neue Welt, wo es von reichen Onkeln nur so wimmelt, die sich ihrer armen Neffen aus Europa annehmen. So wie in Franz Kafkas Romanfragment „Amerika / Der Verschollene“, in dem der sechzehnjährige Karl aus Prag von seinen Eltern nach Amerika verbannt wird (weil er ein Dienstmädchen schwängerte) und dort trotz aller Mühen immer wieder auf die Schnauze fällt: Er ist einfach nicht fies genug für eine rücksichtslose Konkurrenzgesellschaft.

Charlotte Sprenger inszeniert diesen amerikanischen Albtraum an den Münchner Kammerspielen als schräg-schmalzige Musical-Parodie und macht den (nicht ganz neuen) Versuch, Kafka politisch zu deuten. Sie verschränkt Broadway-Ästhetik mit der Brutalität der Hire-and-Fire-Arbeitswelt, symbolisiert durch eine monströse Drehtür, deren Flügel wiederum aus Drehtüren bestehen (Ausstattung: Aleksandra Pavlovic). Auf diesem Ausbeutungskarrussell, wo man so schnell rausfliegt, wie man reinkam, trägt die breite Masse graue Overalls und silbrig glänzende Schädelschalen, die aussehen wie aus MG-Patronen zusammengelötet. Es könnten aber auch die Stecker sein für Kabel, mit denen man die Gehirne der Leute direkt anstöpseln kann. Nicht umsonst führen die zum Maschinentakt manchmal ein synchrones Ballett abgehackter Bewegungen auf.

Deutlich gezeigt wird zudem die heutzutage gern verschleierte Hierarchie der Klassengesellschaft: Dass die amerikanische Verfassung sie als frei und gleich deklariert, nützt den Habenichtsen wenig, denn ihre ökonomische Abhängigkeit macht sie extrem unfrei. Aber auch die „Gewinner“ weit oben auf der sozialen Leiter, die tatsächlich frei sind, erscheinen an dem Abend nicht allzu glücklich, sondern werden als Horrorclowns des Kapitalismus gezeichnet, die nur noch deformierte Karikaturen ihrer selbst abgeben.

Wiewohl das grelle Showspektakel samt Dvorák-Donner und Elvis-Schnulze hier immer auch etwas Gespenstisches hat, weil in ihm spürbar eine latente Bedrohlichkeit, ja Gewalt lauert – ein wenig geht durch solche Interpretationen von Kafka-Texten schon das spezifisch Kafkaeske verloren. Denn das besteht eben gerade darin, dass die Mächte völlig ungreifbar und unbegreifbar bleiben, von denen jene absurde Fremdbestimmung ausgeht, gegen die Kafkas Antihelden so verzweifelt aussichtslos anrennen. Wenn nun plötzlich „das System“, also die bestehenden Eigentumsverhältnisse, als diese unbezwingbare Macht identifiziert wird, ist zumindest ein Teil der Unheimlichkeit und Rätselhaftigkeit ebenfalls „verschollen“, die ja die Faszination dieses Autors ausmachen.

Zum Ausgleich gelingt an dem Abend immer wieder ein sehr reizvolles Stimmungsgemisch aus Komik und Melancholie – vor allem dank herausragender Akteure. Darunter Katharina Marie Schubert, die als Karl wie ein anrührend zerbrechliches und doch energiegeladenes Vögelchen durch diesen BühnenComic flattert. Begeisterter Beifall.
ALEXANDER ALTMANN

Weitere Aufführungen

heute, am 21. und 31. Oktober. Karten: 089 / 23 39 66 00 und muenchner-kammerspiele.de.

Artikel 2 von 10