Nehmt den Mächtigen die Macht: „Mein Generälchen“ von Remedios Varo (1959). © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
„Stillleben mit altem Schuh“: Ein Werk von Joan Miró aus dem Jahr 1937. © Successió Miró Archive / VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Papier-Geschosse, die Hitlers Truppen demoralisieren sollten: Sprüche wie diese steckten Claude Cahun und Marcel Moore in die Taschen deutscher Wehrmachtssoldaten. © kjk
Schwamm drüber: Wolfgang Paalens „Artikulierte Wolke“ (1937) aus Schirm und Naturschwämmen. © Kunstbau
Hitler als Eierkopf: Motiv aus Kati Hornas und Wolf Hamburgers Serie „Hitler-Ei“ (1936). © Archivo Privado G. Kati/J. Horna
Am besten macht man sich die Welt, wie sie einem gefällt. Aber was, wenn das unmöglich ist – weil die Gesellschaft, in der man lebt, feindselig ist, gefährlich und unfrei? Keine Pippi Langstrumpf, die auf dem kleinen Onkel vorbeireitet, nichts mit Kinderbuchromantik. Dann versucht man es trotzdem. Irgendwie, jedem Faschismus, Kapitalismus, Kolonialismus zum Trotz. Eine Gegenwelt schaffen, eine andere Realität: Das ist’s, was die Surrealisten wollten. Allen Gefahren zum Trotz. „Selbst in einer Situation, in der es ums bloße Überleben ging, haben sie Kunst geschaffen. Die Werke dieser Ausstellung zeigen: Egal, wie stark der Verfolgungsdruck ist, es ist immer möglich, aufrichtig Widerstand zu leisten“, sagt Matthias Mühling, Direktor des Lenbachhauses, über die Schau, die nun im Kunstbau zu sehen ist.
„Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus + Antifaschismus“ lautet der kämpferische Titel, der zeigt, dass es hier nicht um zerfließende Uhren, Männer mit Apfel im Gesicht oder telefonierende Hummer geht. Wer an Surrealismus denkt, mag zwar meist an diese populären Motive von Salvador Dalí (1904-1989) und René Magritte (1898-1967) denken, zwei der bekanntesten Vertreter dieser Kunstbewegung. Dabei bietet die viel mehr Facetten. Vor allem: ein revolutionäres Potenzial, das bis heute nicht an Kraft verloren hat.
Vor 100 Jahren, im Oktober 1924, verfasste André Breton sein „Manifest des Surrealismus“, deshalb gibt es gerade überall auf der Welt Jubiläumsausstellungen. Die in München blickt auf die politische Dimension der Bewegung, die sich ab den Zwanzigerjahren als Lebenskunst gegen die gesellschaftlichen Strukturen entwickelte. Wie sich die Bilder von einst und heute gleichen: Antisemitismus, überbordender Kapitalismus, gesellschaftliche Umwälzungen, Wegbrechen alter Gewissheiten – „es ist eine Ausstellung, bei der wir nicht erklären müssen, warum sie gerade jetzt wichtig ist“, formuliert es Mühling.
Dass sie überhaupt möglich ist, verdanken die Kuratoren Stephanie Weber, Adrian Djukic und Karin Althaus den vielen weltweiten Institutionen und Privatsammlern, die diese genreübergreifenden Arbeiten aus Literatur, Theater, Kabarett, Fotografie, Malerei über all die Jahrzehnte bewahrt und dafür gesorgt haben, dass sie nicht verloren gehen, die dahinterstehenden Geschichten. Und was für Geschichten das sind! Man sollte sich viel Zeit nehmen, um sie alle in Ruhe zu erfassen.
Wie die von Claude Cahun und Marcel Moore. Die beiden Frauen, die mit bürgerlichem Namen Lucy Renée Mathilde Schwob und Suzanne Malherbe hießen, führen in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in Paris einen künstlerischen Salon und bewegen sich im Kreis der Surrealisten. Ab 1937 leben sie auf Jersey. Als die Wehrmacht die kleine Kanalinsel besetzt, betreiben sie antifaschistische Propaganda im Miniaturformat. Unbemerkt stecken sie den deutschen Soldaten zusammengefaltete Botschaften in die Uniformjackentasche. Zeilen wie diese: „Hitler führt uns … Goebbels spricht für uns … Goering frisst für uns … Ley trinkt für uns … Himmler? … Himmler ermordet für uns … Aber niemand stirbt für uns!“ Schwarz auf rosa Untergrund. Immerwährende Versuche, kleine Steinchen ins propagandistische Getriebe zu werfen, Hitlers Truppe zu demoralisieren. Mit Erfolg: Für ihre politischen Aktionen und die „Papier-Geschosse“ werden Cahun und Moore zwar interniert und zum Tode verurteilt – das Ende des Kriegs verhindert aber Vollstreckung der Urteile. Ein Selbstporträt aus dieser Zeit verweist auf den Triumph über den Nationalsozialismus: Cahun beißt auf eine Medaille des Reichsadlers mit Hakenkreuz.
Die Ausstellung fächert auf, wie breit die surrealistische Bewegung war, wie länderübergreifend, die Gruppen untereinander in heftiger Diskussion über die jeweilige Ausrichtung. Und weist bewusst auf eine Leerstelle hin: In Deutschland wurde jeder Surrealismus verfolgt, zerstört, als „entartet“ herabgewürdigt. Im Kunstbau sieht man, wie die Künstlerinnen und Künstler darauf reagierten: Lee Miller etwa begleitete 1944 und 1945 die US-amerikanischen Streitkräfte durch Nordfrankreich und Deutschland und fotografierte den Einmarsch der Alliierten und die Befreiung Deutschlands. Die berühmten Aufnahmen von Lee Miller und David E. Scherman im Badezimmer von Hitlers Münchner Wohnung entstanden in der Nacht, nachdem sie in dem kurz zuvor befreiten Konzentrationslager Dachau waren. Tagsüber das Grauen, abends der Schlamm desselben auf dem Badvorleger des Mannes, der für die Abgründe in Dachau verantwortlich ist. Nebeneinander hängen die Schwarz-Weiß-Fotos in der Schau. Surreale Momentaufnahmen von einer Realität, die nicht zu ertragen ist.
KATJA KRAFT
Bis 2. März 2025
Dienstag bis Sonntag 10 bis 18, Donnerstag bis 20 Uhr.