Beim Nürnberger Hochamt von Bob Dylan am Montag waren keine Fotografen erlaubt – anders als bei diesem Auftritt im Jahr 2019. © imago stock
Das Motto an diesem Abend ist klar: Einmal noch die Legende sehen. Die Nürnberger Frankenhalle ist ausverkauft, denn allzu oft – man kann es sich ausrechnen – wird der 83-jährige Bob Dylan nicht mehr hierzulande vorbeischauen, auch wenn er seinen Tingeltangel „Never ending Tour“ nennt. Ein letztes Hochamt womöglich. Und die Lichtgestalt tut, was sie immer tut: Sie speist die begierige Menge der 5000 – viele Grauhaarige und eine Handvoll Hipster – mit fünf Akkorden und zwei Arten von Songs: dem flotten Blues und dem langsamen.
Nürnberg ist unter Dylan-Fans legendär. 1978 spielte er hier vor 80 000 Leuten auf dem Zeppelinfeld, sang trotzig „Masters of War“ gegen die Haupttribüne des alten Reichsparteitagsgeländes an. Viele sahen das als Statement: Wo einst die Stiefel bei unseligen Aufmärschen auf Granit knallten, sollte nun ein neuer, freier Geist wehen. Heute erwartet keiner mehr ein Statement von Dylan. Heute fragen sich alle nur: Kann er noch?
Und wie er kann. Wobei: Anfangs ist man sich nicht ganz sicher. Er beginnt, wie zuletzt immer, mit dem düsteren „All along the Watchtower“, das er schon 1978 spielte und das man dennoch als Kommentar zu unseren Zeiten deuten kann. Ein wackeliger Start, mit dem Mikro stimmt was nicht. Danach kommt „It ain’t me Babe“, der auch schon 60 Jahre alte Abgesang auf alle Erwartungen, die an Dylan gestellt werden. Der schiefe Vortrag scheint die Aussage des Textes bestätigen zu wollen, die Band kommt erst langsam in Tritt. Dann stellt der Meister die Gitarre beiseite – und findet Inspiration hinter dem Konzertflügel in der Mitte der Bühne.
Wie Dylan das ehrwürdige Instrument nutzt, muss man gesehen haben: Er steht dahinter, haut in die Tasten, stützt sich beim Singen mit dem Ellbogen ab, klimpert wieder. So bietet er das großartige Alterswerk „I contain Multitudes“ dar, in dem er ohne mit der Wimper zu zucken Indiana Jones, Anne Frank und die Rolling Stones in einen Vers packt und sich als Räuber Hotzenplotz inszeniert: „Ich trage vier Pistolen und zwei große Messer, ich bin ein Mann der Widersprüche, ich bin ein Mann mit vielen Launen.“ Bis auf die Bewaffnung trifft das auf jedes seiner Konzerte zu.
Denn widersprüchlich ist hier vieles: „When I paint my Masterpiece“ singt er fast übermütig, schwingt sich sogar zu einem krächzenden Belcanto auf, maunzt wie ein liebeskranker Kater. Bisweilen klingt seine Darbietung wie Rap, so als würde er die Texte vorlesen. Dann bewegt er sich tatsächlich auf dem Gebiet, auf dem er den Nobelpreis gewonnen hat. An anderer Stelle nuschelt er nur, und zusammen mit seiner Haltung hinterm Klavier wirkt er wie einer, der sein Gegenüber an der Bar volllabert, während er mit der Linken unterm Tresen nach Kleingeld kramt. Doch eigentlich drückt diese Linke zielsicher Kadenzen in die Tasten, und das Nuscheln wird sogleich abgelöst von einem wirklich glänzenden Blues-Harmonika-Solo.
Von Altersmüdigkeit ist trotz der vielen Launen nichts zu spüren. Und da sind ja auch noch die fantastischen vier Mitstreiter, die die Formkurven des Schelms souverän glätten: Tony Garnier am Standbass, Jim Keltner am Schlagzeug sowie Bob Britt und Doug Lancio an den Gitarren swingen wie mit allen Wassern des Mississippi gewaschene Blues-Veteranen. Alte Schlachtrösser, die den Song weiterziehen, auch wenn der Senior am Steuer ihn in den Graben zu lenken droht, weil er sich in eine kleine Melodie verliebt hat und diese einen Takt zu lange wiederholt oder ihm der Rhythmus auskommt. Britt spielt ein gekonntes Lick drüber, Keltner stolpert kurz hinterher – und schon geht’s weiter.
Zehn der 17 Lieder dieses Abends stammen von Dylans jüngstem Album, „Rough and rowdy Ways“. Auch das ein Statement: Hier steht kein Oldie-Fuzzi auf der Bühne, der seine Greatest Hits runterspult. Und wenn, dann in neuem Gewand. Wie gut sich das anhört, zeigt der Höhepunkt des Abends: „Desolation Row“ hoppelt heiter daher wie „Peggy Sue“ von Buddy Holly. Bob und seine Band performen wie aus einem Guss. Hier springen die 5000 zum ersten Mal für Ovationen auf.
Das tun sie auch ganz am Ende, als Dylan sie mit dem Gebet „Every Grain of Sand“ nach Hause schickt – einem Song voller Gottvertrauen und einem fulminanten Mundharmonika-Finale. Unsere Stunden sind gezählt wie jedes Körnchen Sand auf dieser Welt, singt die Legende – aber vielleicht, vielleicht war es ja doch nicht das letzte Hochamt.
JOHANNES LÖHR