Unvergessen

von Redaktion

Botho Strauß präsentiert in „Das Schattengetuschel“ ein schriftstellerisches Puzzle

Poetische bis groteske Miniaturen serviert uns Botho Strauß in seinem neuen Werk „Das Schattengetuschel“. © R. Walz

„Er ist ein Gaukler von vorvorvorgestern.“ Meint mit diesem Satz aus Shakespeares „Timon von Athen“ Botho Strauß in seinem neuen Buch „Das Schattengetuschel“ sich selbst? Er, der so lange schon kein Theaterstück mehr geschrieben hat, trägt das Theater nach wie vor als eine große Sehnsucht in sich. Immer wieder kommt er, genialer Menschenbeobachter, Zyniker und Liebender, darauf zu sprechen in diesem verkappt autobiografischen Lebens- und Denkpanorama.

Es ist eine der berühmtesten und berührendsten Szenen der Weltdramatik: Wenn in Anton Tschechows „Kirschgarten“ die Gutsbesitzer das in der Versteigerung verlorene Landhaus verlassen, die Fenster dicht gemacht, die Türen abgeschlossen haben, ist einzig der alte Firs auf seinem Stuhl darin sitzengeblieben. Sie haben ihn vergessen. Der bald 80-jährige Strauß offenbart seine tiefe Beziehung zu dieser Figur. Er schreibt: „Allein zurückgeblieben an einem aufgegebenen Ort, Firs und ich, der alte Diener und dessen Diener, der Nacherzähler: beide schon bald im grenzen-, wand- und türlosen Raum …“

In kürzeren oder längeren, absurden oder realistischen Erinnerungsfetzen, in der pointierten Wiedergabe alter und neuer Begegnungen, Eroberungen, Beobachtungen, von Ärgernissen oder Glücksmomenten voller Komik, Tragik, Zynismus und Ironie, mal hochmütig bildungsprotzend, dann wieder in schönster Schlichtheit und Poesie präsentiert er uns ein grandioses schriftstellerisches Puzzle, aus dem sich jeder den Autor zur ganzen Person zusammensetzen kann.

Hinreißende Momentaufnahmen, wie Strauß-Kenner sie aus seinen Stücken gewohnt sind. Wenn er etwa mit einer rumänischen Zugehfrau den ersten erklärenden Gang durchs neue Haus macht und die Besichtigung mit einem Kuss endet. Oder typisch Strauß: Zwei Frauen, nichts voneinander wissend, sitzen fast nebeneinander im selben Zug, auf dem Weg zum selben Mann, der in erotischer Hochspannung am Bahnsteig auf sie wartet, um zu sehen, was bei der Begrüßung zu dritt wohl passieren möge. Skurril die Geschichte vom Schauspieler-Kleindarsteller, der bei der Kostümanfertigung vergessen wurde und sich nun kurz vor der Premiere verzweifelt und verrückt in eine eigene Kreation wickelt und zum Star des Abends wird. Und da Botho Strauß ein Liebes- und Paarspezialist ist, der das Parfüm jeder zwischenmenschlichen Beziehung wittert, kommt es zu so schockschönen Dialogfetzen wie: „… ist nicht verständlich, dass ein Mann für sein sperrigstes Teil einen Unterschlupf sucht?‘ – ,Nachsicht empfing Ihr Teil, Geschick bewies meine freundliche Lücke.‘“

Der Witz hat ihn also nicht verlassen. Auch nicht die bittere Schärfe seiner Ironie. Ebenso wenig die Verallgemeinerungsfähigkeit seiner prononcierten Sätze oder der belehrende Eifer, Antike, Klassik und Moderne zwingend mit dem Heute zu verbinden

Womit wir bei der Ernte wären, den oft überreifen, mitunter vergorenen Früchten seiner lebenslangen Beobachtungen. Mit Hölderlin und Nietzsche teilt er das „kulturelle Leid, deutsch zu sein, zu fühlen, zu denken“. Mit Hochmut verabscheut er die Verluderung der deutschen Sprache sowie den heute in Kultur und Politik herrschenden „Gesinnungskitsch“. Strauß zitiert einen alten Kunsthändler, so etwas wie sein Alter Ego, den „allzeit Unzeitgemäßen“: „Statt Nietzsches Hammer, der Götzen zertrümmerte, braucht es heute ein Laserskalpell, um die Tumore der Gesinnung aus der Hirnrinde zu entfernen.“ Das ist empörend. Dafür will man den geliebten Schriftsteller nicht lieben. Er weiß das selbst. Doch: „Auch ein Unzeitgemäßer genießt Minderheitenschutz, auch er darf seine Stimme erheben.“

Am Ende kehrt Strauß noch einmal zum Theater zurück. Wie oft sah er der Probe zu einem seiner Stücke zu: „So sitzt er noch und wird alle Zeit rätseln, was heute wohl der gefallene Vorhang an Schönem, Verheißungsvollem und Unerklärlichem verbirgt.“ Morgens schleicht er sich ins Parkett, um die Atmosphäre vor der Probe zu inhalieren. Der greise Mann schließt die Augen. Natürlich wird er bemerkt. „Der Alte wird sanft, aber nachdrücklich hinausgebeten.“ Wir denken an Tschechows Diener Firs, als dessen Bruder sich der Dichter nun auf der letzten Seite sieht. Umweht von einem Hauch Tragik. Dafür kann, dafür muss man Strauß und dieses „Schattengetuschel“ dann doch lieben.
SABINE DULTZ

Botho Strauß:

„Das Schattengetuschel“.
Hanser, München, 230 S.; 26 Euro.

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