INTERVIEW

„Bei mir gibt es Speer und Helm“

von Redaktion

Tobias Kratzer über seinen „Ring“ an der Bayerischen Staatsoper

„Ich will eine allumfassende Erzählung versuchen“: Tobias Kratzer inszeniert bis 2027 alle vier „Ring“-Teile. © imago classic

Asterix in München? Szene aus einem „Rheingold“-Video mit Sean Panikkar (Loge, v.li.), Nicholas Brownlee (Wotan) und Lucie Thies (Statisterie). © Manuel Braun

Die Opernwelt schaut am 27. Oktober auf die Bayerische Staatsoper. Dort startet mit der Premiere von Richard Wagners „Rheingold“ ein neuer „Ring des Nibelungen“. Tobias Kratzer, 44 Jahre alt, gebürtiger Niederbayer, einer der zurzeit gefragtesten Regisseure und bald Intendant der Hamburgischen Staatsoper, konnte dafür verpflichtet werden. Es dirigiert Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski.

Braucht man als arrivierter Regisseur unbedingt einen „Ring“ im Lebenslauf?

Nein. Ich würde nicht unglücklich in Rente gehen, wenn ich den „Ring“ nicht gemacht hätte. Ich habe die „Götterdämmerung“ ja schon in Karlsruhe inszeniert. Es gab dann ein paar „Ring“-Angebote aus ganz Europa, ich habe mir alle genau angeschaut – und fand das für München eine sehr schöne Möglichkeit. Es ist meine Heimatstadt, ein wichtiges Haus, und die ersten beiden „Ring“-Teile wurden hier uraufgeführt.

Der frühere Präsident der Bayerischen Theaterakademie, Klaus Zehelein, hat einmal eine „Ring“-Pause an den Theatern gefordert.

Das ist schon sehr von der Warte eines Mannes geurteilt, der alles fünfzehn Mal gesehen hat und ein immenses Wissen hat. Ich kann das irgendwie verstehen. Aber warum sollte eine jüngere Generation zehn Jahre lang nicht die Chance haben, einen neuen „Ring“ zu sehen? Für mich, auch als künftiger Intendant der Hamburgischen Staatsoper, stellt sich immer die Frage: Spiele ich ein Stück, weil es bekannt ist – oder weil es in unserer Zeit etwas zu sagen hat? Ich halte „Carmen“ für ausgeschöpfter.

Angesichts der vielen „Ring“-Inszenierungen: Muss man sich eine Nische suchen, damit man etwas noch nie Gesehenes zeigt?

Natürlich ist das ein extrem abgefischtes Terrain. So abgefischt, dass man sogar nicht mehr mit der Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte punkten kann. Seit ich den „Ring“ kenne, hatte ich das Gefühl, dass die marxistische oder postmarxistische gesellschaftspolitische Deutung mustergültig und zur Gänze durchgespielt wurde. Man nehme nur Patrice Chéreau oder Joachim Herz. Auch der Trend, die Teile als Einzelstücke zu behandeln und sie verschiedenen Regieteams zu geben, fand ich eine historisch wichtige, mich aber nicht ganz überzeugende Rezeptionswelle – obwohl ich selbst in Karlsruhe Teil einer solchen Unternehmung war. Es gab in jüngerer Zeit wenige „Ringe“, die wirklich den großen Bogen, diese allumfassende Erzählung ausprobiert und daraus etwas geschöpft haben. Ich will das versuchen. Es gibt in dieser Tetralogie viele metaphysische Fragestellungen, die mir in den vergangenen 30 Jahren etwas unterbelichtet schienen. Wagner behandelt stets zwei Themenkreise, die auf unterschiedliche Art in unterschiedlichen Stücken durchgespielt werden. Einmal die innerweltlichen, gesellschaftspolitischen Fragen: Wie sieht eine ideale Gesellschaft aus? Wie steht es um die Entfremdung des Menschen im Frühkapitalismus? Und das andere sind die großen Menschheitskränkungen: Wie gehe ich mit der eigenen Sterblichkeit um? Wie mit dem erschreckenden Gedanken, dass das Universum unendlich ist?

Also beim „Ring“ weg vom Politischen, hin zum Menschlichen?

Zum Menschlichen und Metaphysischen würde ich sagen. Natürlich kann man das Politische nicht negieren. Aber diese Fragen sind im „Ring“ die Ableitung größerer Tragödien. Und das ist eben die der Sterblichkeit im Falle von Alberich. Er weiß von Beginn an, dass sein Leben endlich und dass er nicht unsterblich wie die Götter ist. Also muss er innerhalb seiner Lebensspanne alles unternehmen und alles anhäufen, was er haben will. So ticken sehr viele Menschen, und daraus resultiert auch viel politisches Unglück. Die andere Tragödie ist die des unsterblichen Wotan. Ich nehme das sehr konkret. Aber natürlich kann man es metaphorisch lesen: jemand, der sich für unsterblich hält, der glaubt, er könne enorm viel stemmen, sich Zeit lassen und dabei nicht an künftige Generationen denken. Daraus resultiert unter Umständen eine große Langeweile oder ein Fatalismus. Weil er sich sagt: Ist ja eh alles egal. Auch das kann politische Konsequenzen haben.

Es geht also nicht um den guten Wotan oder den bösen Alberich.

Nein, wir behandeln komplett außermoralische Fragen. Es geht um sterblich gegen unsterblich.

Wie stellt man heute einen Helden dar?

Ich versuche es, auf einer erzählerischen Ebene relativ direkt zu nehmen. Mein Minimalanspruch ist: Jemand, der seinen ersten „Ring“ sieht, soll spannende Abende haben. Und diejenigen, die alles öfter gesehen haben, sollen etwas für sie Unbekanntes entdecken.

Ihre Münchner „Ring“-Premieren ziehen sich bis 2027. Wissen Sie jetzt schon, wie das Schlussbild der „Götterdämmerung“ aussieht?

Ja. Es gibt zwar noch gedankliche Freiräume, aber ich, weiß, wie es endet. Allerdings: Wenn ich gerade während der langen Frist zwischen „Rheingold“- und „Walküre“-Premieren feststelle, dass es doch eine andere Abzweigung geben könnte, dann ist so etwas noch möglich. Es kann auch sein, dass Figuren in einzelnen Akten oder Stücken auftauchen, in denen sie eigentlich nichts zu singen haben.

Und wie endet alles für Sie? Happy End? Negativ? Trauen Sie dem Erlösungsmotiv, das Wagner am Schluss verwendet?

Na, das wäre etwas früh, wenn ich das vorwegnehme. Es ist wie immer bei Wagner dialektisch. Wer überlebt, verrate ich auch nicht. Vielleicht ist manchmal Überleben sogar die größere Strafe.

Wie verhält man sich eigentlich zu den sagenhaften, mystischen Symbolen wie Schwert oder Ring? Muss man die bringen?

Dass sich die nicht mit links umwandeln lassen, sieht man ja an jüngeren „Ring“-Ergebnissen. Als ich meine Karlsruher „Götterdämmerung“ inszenierte, war ich an diese Symbole nicht unbedingt gebunden. Da war das Schwert Nothung einfach Siefrieds Penis, das trug ganz gut über den Abend. Auf den ganzen „Ring“ bezogen finde ich, dass man die klassischen Symbole gut nehmen und sie dann im Verlauf der Abende neu aufladen kann. Bei mir gibt es Ring, Speer und Helm, so viel kann man verraten. Es wird auch keine Einheitsbühne, sondern viele Bühnenbilder geben.

Wie real ist diese Geschichte überhaupt? Oder ist sie doch „nur“ ein Mythos?

Unser „Ring“ spielt in einer parallelen Gegenwart, in der Magie existiert. Und alles dockt zugleich an eine sehr nahe gelegene Erfahrungswelt des Publikums an. Im Grunde wie bei „Harry Potter“…

…Vorsicht mit solchen Zuspitzungen. Ihr Bayreuther Kollege Valentin Schwarz muss sich seit seinen ersten Interviews mit dem Label „Netflix-Ring“ plagen.

Ja, gut. (Lacht.) Ich meine einfach eine parallele Realität, die das Publikum konkret oder als Metapher nehmen kann. Wie in den besten Werken des Fantasy-Genres. Dadurch, dass ich zum Beispiel die Götter tatsächlich als Götter nehme, ergeben sich bei Wotan nicht nur die Probleme eines menschlichen Clan-Lenkers, wie man das häufig sieht, sondern vieles mehr.

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