Wollten es noch einmal wissen: (v. li.) Roger Glover, Ian Paice, Ian Gillan, Don Airey und Simon McBride. © Martin Hangen
Nach dem dritten Song ist Tea-Time. Ian Gillan klopft sich auf die Brust, bleckt die Zunge, grinst entschuldigend. Die Luft ist raus bei dem 79-jährigen Deep-Purple-Sänger, nachdem er seine über Generationen geschundenen Stimmbänder durch die Hardrock-Klassiker „Highway Star“ und „Into the Fire“ sowie den neuen Song „A Bit on the Side“ geprügelt hat. Weil aber Gillan ein englischer Gentleman ist, wie er im Buche steht, sagt er: „Das waren also ein paar alte Calypso-Klassiker. Darf ich euch nun diesen zauberhaften jungen Mann vorstellen? Simon McBride!“ Er klopft dem Nesthäkchen (45) an der Gitarre auf die Schulter – und verschwindet während des folgenden Solos mit dem Rest der Band hinter einem schwarzen Paravent, mutmaßlich, um sich eine Infusion legen zu lassen.
Natürlich ist das despektierlich. Denn dieses Konzert zeigt eine Band, die zwar um ihre Grenzen weiß, die es aber auch einfach noch mal wissen will. „Highway Star“ etwa macht mächtig Dampf, zu so was würden sich beim Wacken-Festival junge Metal-Fans durch den Mosh-Pit schubsen. Das gesetztere Publikum in der gut gefüllten Münchner Olympiahalle nickt freilich nur heftig mit dem Kopf und denkt selig lächelnd an glorreiche Zeiten.
Ein weiteres Indiz dafür, dass es sich hier um ein ernsthaftes Unternehmen handelt und nicht um eine Oldie-Show: Sechs Songs stammen vom neuen Album „=1“, mehr noch als vom Klassiker „Machine Head“. Und Ian Gillan singt wirklich passabel. Er, der seinem Organ mehr angetan hat als die Kollegen Robert Plant und Roger Daltrey zusammen, hält sich schon länger fern von der Kreisch-Orgie „Child in Time“. Aber „Lazy“ und „Space Truckin’“ funktionieren noch. Neue Stücke wie „Now you’re talkin’“ sind eh für seine jetzige Stimme geschrieben. Nur manchmal ertappt man sich bei Mitleid, wenn es in den Höhen einfach nicht mehr klappen will.
Die Virtuosität von Deep Purple steht eh außer Zweifel. McBride hat die Glissandi des früheren Chefs Richie Blackmore verinnerlicht und teilt mit seinem direkten Vorgänger Steve Morse die flinke Rechte. Er schlägt auch in halsbrecherischem Tempo noch fast jeden Ton einzeln an. Organist Don Airey hetzt wie ein schmunzelnder Mathelehrer über die Manuale. Urgestein Roger Glover mörtelt mit seinem Bass untenrum alles zu. Und Ian Paice, das einzig verbliebene Gründungsmitglied, setzt dem Ganzen die Krone auf. Vom Wohlstandsbäuchlein des 76-Jährigen darf man sich nicht täuschen lassen: An der Fußmaschine ist er immer noch ein Tier, swingt aber wie ein Jazzer. Und mit der Hi-Hat kann er mehr anstellen als manche Kollegen mit einer ganzen Batterie von Trommeln.
Freilich übertreiben sie’s auch mit dem Solieren. Wenn Airey zu seinem zweiten Glanzstück antritt, dieses könnerhaft, aber auch grotesk von Mozart über Boogie-Woogie bis zur deutschen Nationalhymne treibt, da fühlt man sich schon an jene legendären italienischen Fußball-Nationalmannschaften erinnert, die bei einer 1:0-Führung gnadenlos Zeit von der Uhr nahmen, indem sie die Kugel ohne größere Ambitionen hintenrum spielten. In der Zeit hätte man sich noch ein, zwei Klassiker gewünscht.
Dabei können sie auch anders. „Smoke on the Water“, das nun wirklich von jeder Schülerband massakriert wird, ist selten so präzise dargeboten worden wie heute. Dass Deep Purple mutig sind, zeigen sie außerdem, als sie nach einer weiteren kurzen Tea-Time im Zugaben-Teil das neue Stück „Old-Fangled Thing“ bringen. Mit „Hush“ und „Black Night“ verabschieden sich die Gentlemen von München. „We love you!“ Gillan ruft es dreimal. Der Jubel der Menge sagt ihm: Gleichfalls, Ian, gleichfalls!
JOHANNES LÖHR