Der Name Unseld ist Geschichte

von Redaktion

Investor Dirk Möhrle ist von Freitag an alleiniger Eigentümer des Suhrkamp-Verlags

Alleineigentümer: Dirk Möhrle hat Suhrkamp gekauft. © dpa

„Es war Zeit, die Verantwortung, die Siegfried Unseld mir ‚abverlangt‘ hat, abzugeben“, sagt Ulla Unseld-Berkéwicz, die Witwe des legendären Verlegers. © Frank May/dpa

Es war einmal, dass Marcel Reich-Ranicki fast täglich anrief und von den Lektoren seines Vertrauens den Klatsch und Tratsch hören wollte: „Was gibt es Neues in der Lindenstraße?“ Mit der Lindenstraße meinte Reich-Ranicki (1920-2013) im Gespräch mit Raimund Fellinger (1951-2020) nicht die ARD-Serie. Die Lindenstraße 29-35 war damals die Adresse des Suhrkamp-Verlags in Frankfurt am Main. Lang ist es her. Der damalige Hauptsitz im Frankfurter Westend wurde längst abgerissen. Seit 2010 sitzt der 1950 von Peter Suhrkamp (1891-1959) gegründete Verlag, den nach dessen Tod jahrzehntelang Siegfried Unseld leitete und der das intellektuelle Klima hierzulande lange Zeit prägte, in Berlin. Dort in der Torstraße gibt es jetzt einiges Neues.

Von diesem Freitag an ist der Hamburger Investor Dirk Möhrle Alleineigentümer des Verlags, dessen Programm manchmal feierlich als das geistige Tafelsilber des deutschsprachigen Raums bezeichnet wird, mit Autoren wie Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht, Max Frisch, Hermann Hesse, Christa Wolf, Peter Handke, Jürgen Habermas, Peter Sloterdijk und, und, und. „Auf die Zusammenarbeit mit Dirk Möhrle freuen wir uns“, sagt Verleger Jonathan Landgrebe. Durch den Eigentümerwechsel entstünden Suhrkamp neue Spielräume und die vereinfachten Strukturen erleichterten die Arbeit. „In einem veränderten Marktumfeld werden wir weiterhin zeigen, dass sich gute Bücher und gute Umsätze nicht gegenseitig ausschließen“, ergänzt Landgrebe.

Das hoffen auch viele Branchenbeobachter in Deutschland, Österreich und der Schweiz, für die der Verlag – auch während des jahrelangen Streits hinter den Kulissen in früheren Jahren – immer ein ganz besonderes Kulturthema geblieben ist. „Dass die Kronjuwelen des deutschen Geisteslebens nun plötzlich einem Mann gehören, dessen Familie dank erfolgreicher Baumärkte zu einem beachtlichen Vermögen gekommen ist, ist eine erstaunliche Wendung, die die interessierte Öffentlichkeit erst mal verdauen muss“, kommentierte etwa „Die Zeit“. Die Wochenzeitung machte die Ereignisse um den Verlag vor Kurzem als Gesprächsthema Nummer eins auf der Frankfurter Buchmesse aus. Sie sprach dort mit Möhrle, der einst die Baumarktkette Max Bahr leitete und sich über deren Verkauf mit Teilen seiner Familie überwarf.

Es sei „die Freude an der intellektuellen Herausforderung“, sagte der 61-Jährige der „Zeit“ zu seinen Beweggründen für den Suhrkamp-Kauf. Und: „Dass ich das mache, soll durchaus als ein Signal in der Branche verstanden werden, dass das Buch eine Zukunft hat.“ Die Lage des Hauses – und hier wägt Möhrle, der seit 2015 schon 39 Prozent des Verlags hielt, jedes Wort ab – sei „angespannt, aber der Verlag ist nicht in Schwierigkeiten“. Die „Siegfried und Ulla Unseld Familienstiftung“, unter dem Vorsitz von Ulla Unseld-Berkéwicz (75), sowie die Familie Ströher ziehen sich als Aktionäre zurück. Vorbei ist es jetzt mit dem Namen Unseld bei Suhrkamp. Joachim Unseld (71), der einst unsanft im Streit mit dem Vater Siegfried Unseld (1924-2002) den Verlag verließ, führt schon seit Jahrzehnten ein eigenes Haus, die Frankfurter Verlagsanstalt. Er kommentiert die aktuellen Vorgänge nicht.

Noch Ende September, zum 100. Geburtstag von Siegfried Unseld, gab der Verlag den Band „Hundert Briefe“ heraus. Unseld schrieb viele Briefe an Autorinnen und Autoren wie Ingeborg Bachmann und Samuel Beckett. Spannend und mit mancher Lästerei versehen ist zudem das Betriebstagebuch, die von Siegfried Unseld selbst betitelte „Chronik“. Sie ist zusammen mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach online zugänglich gemacht worden. Auf den runden Geburtstag nahm auch Witwe Unseld-Berkéwicz Bezug, als Anfang Oktober die neue Eigentümerstruktur verkündet wurde: „Es war Zeit, die Verantwortung, die Siegfried Unseld mir ‚abverlangt‘ hat, wie es bei Bertolt Brecht heißt, abzugeben.“ Ihre Tätigkeit habe mit dem 100. Geburtstag Siegfried Unselds ihr Ende gefunden.

In seinem ersten Interview nach dem „spektakulären Coup“ („FAZ“) sagte Möhrle der Zeitung: „Von feindlicher Übernahme kann keine Rede sein, vielmehr von freundschaftlicher Übernahme.“ Es gebe keinen Disput. Nach eigenen Worten hat er noch nie etwas gekauft, „um ein paar Jahre später wieder mit Gewinn zu verkaufen“.
GREGOR THOLL

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