Alberich (Markus Brück) und Loge (Sean Panikkar, li.). © Hösl
Die heidnische Götterwelt lässt sich feiern in einem gotischen Hochaltar: Schlussbild des Münchner „Rheingolds“ in der Ausstattung von Rainer Sellmaier. © Wilfried Hösl
Wie lang eine Liebesgöttin am Strang zappeln kann? Es wird eng für Freia, in jeglicher Hinsicht. Viele Koffer müssen aufgeschichtet werden, um den noch frei baumelnden Füßen Halt zu geben, die Gefolterte zu retten und heimzuholen in die Familie Wotan. Und auch wenn ihr Überleben gerade noch gesichert wird: Es ist ein Moment des Verrats, der diese Sippe fortan überschattet. Auch wenn sie sich zum Schlussbild in einem riesigen Hochaltar mit pompösen Orchesterklängen feiern lässt.
Natürlich geht es in diesem „Rheingold“, mit dem die Bayerische Staatsoper ihren heiß ersehnten „Ring des Nibelungen“ startet, um Besitz und Habsucht, ganz wie es sich Richard Wagner dachte. Doch übers Edelmetall ist Regisseur Tobias Kratzer, auch da trifft er sich mit dem Bayreuther Meister, längst hinaus. Denn schlimmer als ein geklauter Schatz samt Ring, wutbringender, verletzender ist anderes, wie wir an diesem Premierenabend erfahren: Erniedrigung, Demütigung, ja Missbrauch.
Wie bei seinem kultigen Bayreuther „Tannhäuser“ schlägt bei Kratzer die Sache um. Zum Anfüttern des Publikums gibt es Schauwerte und Theatertricks. Mit Figuren, die im Nebel verschwinden und wieder auftauchen. Mit Rheintöchtern, die dank ihrer Zauberkräfte Alberich zum üblen Tanz zwingen. Und später mit zwei herrlichen Videos, die Wotan und Loge auf dem Weg zu Alberich zeigen. Durch Städte wie München oder New York, in der U-Bahn und im Flieger, wo der Obergott seinem angewiderten Nachbarn den zur Kröte verwandelten Alberich in der Jausendose präsentiert.
Doch längst ist aus dieser Welt der Glaube gewichen, „Gott ist tot“, wie wir auf einer Wand lesen, ist mehr als ein gern genommenes Nietzsche-Zitat. Ausstatter Rainer Sellmaier hat dafür das heruntergekommene Interieur einer gotischen Kathedrale gebaut. Sinnsuche gefällig? Nicht an diesem Unort. Nur zwei Priester gibt es noch, die von Kratzer umgewerteten Riesen Fasolt und Fafner, doch die sind zur heidnischen Gegenseite übergelaufen. Für ihren neuen Götzen haben sie das passende PR-Plakat parat („Dein Walhall, dein Wotan“). Und was sie ihrer Geisel Freia angetan haben, lässt sich schnell erahnen: Es war eine Vergewaltigung.
Ewig ließen sich diese Schilderungen fortsetzen. Viel ist in Kratzers „Rheingold“ drin, das einem Inhalte mit der Sinnlichkeit des hintergründigen Theatermachers unterjubelt. Eine Kulinarik, unter der Dunkles gärt. Zutiefst menschliche Tragödien zeigt Kratzer, verschränkt und überblendet dies mit Religiösem und Politischem. Brillant gedacht ist das, vieldeutig und dadurch nie aufdringlich. Und vielleicht ließe sich vor diesem Hintergrund ein wenig Frieden machen mit Vladimir Jurowski. Denn der ist ja alles andere als ein Lustmusiker, auch das ist an dem Abend zu erleben.
Der Generalmusikdirektor will anderes. Sein Wagner-Klang ist wie am Wetzstein erzeugt. Details, Schichtungen, all das wird mit dem kühlen Blick des Analytikers herauspräpariert. Ein Anti-Mischklang, ein Gegenentwurf zur Bayreuther Akustik. Und immer wieder gibt Jurowski im Tempo nach, schielt auf eine Extraportion Bedeutsamkeit. Es ist nicht nur ein sehr langsames „Rheingold“, sondern auch eines, das durchhängt. Kein Konversationsstück, Jurowski zielt aufs Musikdrama – und damit daneben. Man spürt sein immenses Wissen um die Partitur, doch das steht ihm oft im Weg. Außerdem sind da ungewohnte Trübungen im sonst „Ring“-gestählten Staatsorchester: Premierenüberdruck oder Alarmzeichen?
Auch die Gesangsfraktion hat es dadurch nicht leicht. Wobei die Staatsoper auf einigen Positionen Fulminantes auffährt, allen voran Nicholas Brownlee bei seinem Wotan-Debüt. Ein Mustertechniker mit kernigem, extrem gut fokussiertem Bassbariton und einer gleichsam natürlichen Stimmkraft, ein juveniler Göttervater, dem sicher im Verlaufe dieses Münchner „Rings“ (die letzte Premiere ist erst 2027) mehr Differenzierungen zuwachsen werden. Sean Panikkar ist als Loge weniger Entertainer, sondern cooler, flexibel, manchmal überreizt singender Intrigant. Matthias Klink ist mit seinem intelligent dosierten, nie keifenden Mime eine Luxuslösung. Die drei Rheintöchter sind anfangs eher dramatisch gelaunt. Matthew Rose ist als Fasolt kein Brummel-Bass, sondern artikuliert klar. Bei Wiebke Lehmkuhl als Erda scheinen 2100 Premierengäste vorübergehend das Luftholen zu vergessen. Ekaterina Gubanova ist eine Fricka mit herbem (Stimm-)Charme. Und Ian Koziara (Froh) oder Milan Siljanov (Donner) sind gute Charaktertypen, singen aber nicht auf Augenhöhe mit dem Rest.
Am allermeisten wird aber von Markus Brück verlangt. Dem Alberich nähert er sich von der deklamatorischen Seite, was riskant ist, hier aber aufgeht. Enorm viele Nuancen bis kurz vor dem Sprechgesang sind zu hören. Und zu sehen ist ein gefallener Mensch, der in der Konfrontation mit Wotan seine letzte Lebenschance wittert, in einer Garage Festplatten mit gefährdenden Inhalten sowie Maschinenpistolen hortet und sich rüstet zum Sturm: Am 5. November würde der Mann wahrscheinlich Trump wählen.
Splitterfasernackt ist er, als ihn Göttervater und Loge an eine Kirchenbank fesseln. Kein plakativer Moment bei Tobias Kratzer, sondern ein Bild des Jammers und der tiefen Verletzung. Ein Ecce Homo von der dunklen Seite der Macht. Viele Fährten legt die Regie für die kommenden „Ring“-Teile, die man nach diesem „Rheingold“ heißer denn je ersehnt. Und mit dem Bild des entblößten Nibelungen wird fast körperlich spürbar: Von der ultimativen Demütigung Alberichs, von dieser Ursünde, wird sich nicht nur die Götterwelt nie mehr erholen.
MARKUS THIEL
Weitere Vorstellungen
am 3., 8. und 10. November (ausverkauft); Restkarten eventuell unter 089/2185-1920.