Alle Gesetze der Perspektive hebt Chagall auf. Wie hier in „Der Papierdrachen“ (1925/26).
Ein Andenken setzt Chagall mit diesem Bild eines jüdischen Friedhofs allen Juden, die bei Pogromen starben.
Und immer wieder Bella: In etlichen Werken hat Marc Chagall seine Liebe zu seiner ersten Ehefrau Bella Rosenfeld zum Ausdruck gebracht. Hier: „Der Geburtstag“ (1923).
Man kann das alles furchtbar kitschig finden. Und abtun als süßlich, gefällig. Oder man lässt sich wieder völlig unvoreingenommen und wie mit Kinderaugen auf Marc Chagalls Werke ein. Vergisst die vielen mit fliegenden Liebespaaren bedruckten Tassen und Geschirrtücher und Brillenetuis, die man in den Museumsshops dieser Welt gesehen hat – und erkennt das große Können eines Künstlers, der sich in keine Atelierschublade stecken lässt.
Was dieser Mann schuf, der während seines fast 100 Jahre währenden Lebens sämtliche Strömungen des 20. Jahrhunderts aufgesogen hat, ist kein Expressionismus, kein Impressionismus, kein Surrealismus, kein Realismus. Es ist Chagalls ganz eigener Stil. Nicht von unserer Welt und doch ganz in ihr verhaftet. Da flattern persönliche Erinnerungen durch die märchenhaft anmutenden Bilder, schwingt lebenslanges Sehnen nach der Heimat des Künstlers mit. Um sie und damit auch das breite Werk von Marc Chagall besser zu verstehen, fährt man am besten nach Wien. Die dortige Albertina präsentiert in Kooperation mit der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen derzeit rund 100 Arbeiten aus sämtlichen Schaffensphasen: von den frühen, zwischen 1908 und 1910 im Russischen Zarenreich gemalten Bildern über die großen poetischen Kompositionen der Pariser Jahre 1910 bis 1914, bis hin zu jenen Großformaten, die Chagall bis in die Achtzigerjahre in Südfrankreich malte.
1887 wird der Künstler als Moische Chazkelewitsch Schagal in Witebsk geboren, das im heutigen Weißrussland liegt und damals ein Ansiedlungsgebiet für Juden war, die im russischen Reich nur eingeschränkte Bürgerrechte hatten. Die Angst vor Verfolgung, dem nächsten Pogrom ist omnipräsent. Sie wirkt nach. Auch als Marc Chagall bleibt er ein ewig Vertriebener, der zu einem unsteten Leben gezwungen ist. In St. Petersburg, dann in Paris, zurück in Russland und noch einmal nach Frankreich, flieht er ins Exil nach New York und kehrt schließlich zurück nach Frankreich. Hier wird er sesshaft und bringt sein reiches Schaffen zur Vollendung. Und wie reich es ist! Staunend spaziert man durch die von Gisela Kirpicsenko kuratierte, sehenswerte Schau. In jedem Bild spiegelt sich Chagalls Anspruch, in der Kunst Seelenzustände offenzulegen. Regeln lehnt er konsequent ab, amüsiert sich etwa über die Kubisten: „Sollen sie nur an ihren dreieckigen Tischen ihre quadratischen Birnen essen, bis sie satt sind!“ Seine Bilder sollen Zeugnisse der Empfindung sein, die ein Thema, eine Erinnerung in ihm hervorruft. Sie strotzen vor Gefühl und spiegeln die innere Zerrissenheit ihres Erschaffers: unbändige Lebenslust und Freude in ein und demselben Werk vereint mit tiefer Traurigkeit und Schwermut. Chagall sprengt farbenprächtig alle Sehgewohnheiten. Lässt die Grenzen zwischen Himmel und Erde, Jenseits und Irdischem, Traum und Wirklichkeit verschwimmen. Auch, um das jüdische Bilderverbot auf höchst originelle Weise zu umgehen, interpretiert er die Realität auf seine poetische Weise. Perspektive, Logik zählt hier nichts. Was zählt, sind die Erinnerungen und Gefühle, die er mit den Hähnen und Kühen, Ziegen und Fischen, den Geigenspielern, Rabbis und Clowns verbindet, die die Bildflächen beleben. Sie fliegen durch die Lüfte, sie verschwinden in Hauswänden oder tanzen auf den Dächern. Gemalt nach Größenverhältnissen fern jeder Realität. In Arbeiten wie „Die Mutter am Backofen“ (1914) zeigt sich deutlich, wie Chagall die Figuren je nach ihrer Bedeutung vergrößert oder verkleinert, nicht nach den optischen Gesetzen der Perspektive. Die Mutter wirkt riesig in der Küche, der Vater klitzeklein daneben. Die familiären Verhältnisse in Bild gefasst. Und immer wieder: Bella. Was für eine zauberhafte Pointe der Kunstgeschichte, dass die große Liebe eines Mannes, der so viel Sinn für Schönheit hatte, diesen Namen trug. Bella Rosenfeld, Jugendliebe und erste Ehefrau von Marc Chagall, ist eine der am meisten porträtierten Frauen des 20. Jahrhunderts. Es sind Bilder erfüllt von Liebe, Wärme, Geborgenheit. Doch dann: der plötzliche Tod von Bella.
KATJA KRAFT
Bis 9. Februar 2025
Albertina, Albertinaplatz 1, Wien; täglich 10 bis 18 Uhr, Mittwoch und Freitag bis 21 Uhr.