Jesu Leiden, rückwärts erzählt

von Redaktion

Puristen mögen mit der „Matthäus Passion 2727“ hadern – doch das Experiment der Kamea Dance Company gelingt

Es war ein kontrastreiches Feiertagswochenende, das die Kamea Dance Company aus Münchens israelischer Partnerstadt Be’er Scheva dem Publikum im Deutschen Theater bescherte. Denn während man das Gastspiel dank Orffs „Carmina burana“ mit erotischem Knistern begonnen hatte, war das zweite Programm der „Matthäus-Passion“ gewidmet. Eingekürzt auf knackige 75 Minuten, was bei Bach-Puristen womöglich für Schnappatmung sorgt. Erste Irritation kommt bereits auf, als der Abend musikalisch mit dem Schluss-Chor „Wir setzen uns in Tränen nieder“ beginnt und sich dann über Grablegung und Golgatha chronologisch rückwärts arbeitet. Doch das Experiment geht tatsächlich auf!

Denn Choreograf Tamir Ginz geht es in seiner packenden Deutung des gewichtigen Meisterwerks nicht einfach um eine wortgetreue Nacherzählung. Weshalb sich zwischen ikonischen Zitaten, etwa einer Nachbildung von da Vincis „Abendmahl“, immer wieder auch assoziative Szenen abspielen. Schließlich sind Emotionen wie Trauer und Verlust ebenso wenig der Religion vorbehalten wie die Sehnsucht nach Trost und Erlösung. Trotz unterschiedlicher Herkunft findet die internationale 14-köpfige Truppe so einen gemeinsamen Energiefluss. Verstärkt dadurch, dass die Tänzerinnen und Tänzer selbst in den präzise ausgezirkelten Gruppenformationen ihre Individualität bewahren dürfen. Während leitmotivisch eingesetzte Hebungen und Schrittkombinationen für den roten Faden sorgen.

Das Ensemble trägt Einheitsoutfit, wodurch sich die Protagonisten erst allmählich herauskristallisieren. Aus der Geschichte einer Glaubens- oder Leidensgemeinschaft lösen sich zwei Einzelschicksale, die untrennbar miteinander verwoben sind. Hier die Messias-Figur, dort der Verräter, der dem Freund in den Rücken fallen muss, damit dieser seine Erlösungstat vollbringen kann. Wie Nitay Halevi hierbei die innere Zerrissenheit des Judas in jeder seiner kraftvollen Bewegungen spürbar macht und am Ende ebenso nackt und verletzlich auf der Bühne bleibt wie anfangs der vom Kreuz abgenommene Erlöser, packt einen unmittelbar.

Genauso wie die stumme Verzweiflung des Ensembles, das sich im Angesicht des Schreckens immer wieder den Mund zuhält und nur einmal seine Gefühle herausschreien darf. Kontrastiert von einem intensiv durchlebten Pas de deux zwischen Jesus und Maria Magdalena, in dem Sagi Balely und Giorgia Scocchera auch kurze Momente der Hoffnung aufscheinen lassen.
TOBIAS HELL

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