Volle Kanne Wagner mit (v.li.) Simon Rattle, Stuart Skelton und Lise Davidsen. © Astrid Ackermann
Eine halbe Stunde vielleicht ist rum, die steigenden Säfte und Hormonexplosionen des Titelpaares sind einigermaßen bewältigt, da schaut der Dirigent nach rechts. Stimmt, da singt es ja. Und immerhin steht dort, neben dem Tenor Stuart Skelton, die Sopranistin Lise Davidsen. Die vokalwuchtigste, vielversprechendste unter den Hochdramatischen. Wenn die 37-jährige Norwegerin eine ihrer triumphierenden Tonsäulen in den Raum stellt, dann ist da nur noch Staunen. Normalerweise jedenfalls.
Hier in der Isarphilharmonie ist das anders. Hinter ihr sitzt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Und am Pult steht der Chef. Sir Simon Rattle hat „Tristan und Isolde“ unter anderem schon in Aix-en-Provence (mit dem London Symphony Orchestra) und in Baden-Baden (mit den Berliner Philharmonikern) dirigiert. In München kommt es „nur“ und konzertant zum zweiten Akt.
Man spürt, wie er sein aktuelles Ensemble liebt und fordert, den Luxus-Klang mit erlesenen, betörenden Soli bestmöglich in Szene setzen will. Was dabei herauskommt, ist ein kleiner Wagner-Unfall, beim „Tristan“ kann das passieren. Eine Symphonie mit Gesangsbeilage. Dabei ist Rattle im Entdeckermodus. Selten so Gehörtes registriert man. Die heftig bewegte Cello-Linie vor dem anfänglichen Zusammentreffen der Liebenden zum Beispiel. Das klar formulierte Streicherpulsieren in „O sink hernieder, Nacht der Liebe“. Die Verläufe in den Bläsern kurz vor Ende des Akts, wenn Utopisches letztmals heraufdämmert und alles desillusioniert verglimmt. Und dazwischen: delikate instrumentale Mixturen, ein offener, tiefenscharfer Klang, gezauberte Übergänge, alle Gruppen sind mit Lust und Geschlossenheit dabei.
Rattles „Tristan“ ist eher diesseitig gedacht. Hier wird gedrängt, getrieben, der Orchestermotor darf heißlaufen. Ordentlich Effekt macht das. Die Kehrseite: Das meiste ist zu laut. Und je mehr sich abspielt im oberen Dezibelbereich, desto diffuser, ermüdender wird es. Hier ist Rattle primär Orchester-, kein Sängerdirigent. Und der zurzeit einzige, der den Riesensopran von Lise Davidsen plattmachen kann. Dabei hätte sie bei ihrem Isolde-Debüt viel zu bieten, etwa eine reiche Mittellage, die viele Nuancen und Farben erlauben könnte – nicht an diesem Abend.
Stuart Skelton ist für den Tristan zu kleinformatig. Eine jener angreifbaren Gesangsbesetzungen, wie sie bei Rattle und dem BR gern vorkommen. Die überkuppelten, gedeckten Töne können sich kaum Raum verschaffen. Skelton kämpft, irgendwann ist da ein kleiner Kratzer, mit lyrischen Passagen will er einiges wettmachen. Dafür gibt es mit Karen Cargill eine offensiv bis drastisch gestimmte Brangäne. Christof Fischesser, eingesprungen für Franz-Josef Selig, stattet seinen Marke mit vielen Grauwerten und starker Artikulation aus, die königliche Verzweiflung nimmt man ihm ab. Heftige Ovationen, die es mit der Dezibelschlacht zuvor locker aufnehmen.
MARKUS THIEL