Wie leicht man in eine Diktatur stolpern kann, zeigt Volker Kutscher im großen Finale um den Berliner Kommissar Gereon Rath. © Oliver Berg
Gereon Rath ist zurück. Aus den Buchhandlungen war Volker Kutschers Romanheld seit „Der nasse Fisch“ 2007 nicht mehr verschwunden. Doch je erfolgreicher die Krimis mit dem Berliner Kommissar wurden, dem auch die TV-Serie „Babylon Berlin“ ein Denkmal setzte, umso übler spielte der Autor seinem Protagonisten Band für Band mit. Mit „Rath“ liegt jetzt die zehnte, angeblich und endgültig letzte Geschichte vor.
Die Zeiten haben sich vollends verdunkelt. Waren die ersten Büchers parallel zur Krimihandlung noch ein akribisch recherchiertes Sittengemälde der Zwanzigerjahre mit dem dazugehörigen Tanz auf dem Vulkan, steht das Grauen nun wirklich vor der Tür: Die Nazis sind an der Macht. Der Krieg wirft im Herbst 1938 sehr deutlich seine Schatten voraus. Und in wenigen Tagen wird Chamberlain im Rahmen des Münchner Abkommens die Tschechoslowakei opfern.
Gereon Rath gilt offiziell als tot oder als nach Amerika geflohen. Ist aber tatsächlich im Rheinland nahe Köln bei seinem greisen Vater untergetaucht. Mit Gattin Charly verbindet ihn nicht mehr allzu viel. Gelegentliche heimliche Treffen in einem Hotel in Hannover können die Entfremdung längst nicht mehr kaschieren. Doch schon bald muss er sich wieder zurück nach Berlin begeben. So steigt mit jedem Tag die Enttarnung des angeblichen „Herrn Michalek“. Denn an den Tod von Gereon Rath haben seine Widersacher, allen voran der inzwischen zum SS-Obersturmbannführer aufgestiegene Sebastian Tornow, ohnehin nie geglaubt.
Obwohl der zehnte Band „Rath“ heißt, geht es gar nicht so sehr um Gereon, sondern mehr um seine Familie, seinen Vater, seinen Bruder Severin und seine Frau Charlotte sowie Ziehsohn Fritze, mittlerweile strammes HJ-Mitglied. Der wird verdächtigt, für den Tod zweier Hitlerjungen aus seiner Schar verantwortlich zu sein. Charly kann das nicht glauben, beginnt auf eigene Faust mit Ermittlungen und gerät immer mehr in Gefahr. Die neuen Machthaber zögern nicht lange, wenn es darum geht, Regimegegner auf Kurs zu bringen oder gänzlich aus dem Verkehr zu ziehen.
„Der Blick aus der Perspektive der Zeitgenossen ist mir total wichtig“, erklärte Volker Kutscher einmal in einem Interview seine Arbeitsweise. „Wie sah der Alltag der Menschen tatsächlich aus? Worüber wurde beim Bäcker gesprochen?“ Und eben auch: Was wird alles anders angesichts einer sich stetig verfestigenden Diktatur? Dass die Kriminalpolizei nicht mehr ohne Mitsprache der Gestapo ermitteln kann, ist nur einer von vielen Aspekten, an denen Kutscher das Eindringen des Nationalsozialismus in die bisherigen Gefüge zeigt. Dementsprechend ist „Rath“ kein herkömmlicher Krimi. Die Mördersuche steht nicht im Vordergrund, obwohl Kutschers großes Finale sehr spannend zu lesen ist. Denn am 9. November 1938 brennen in Deutschland nicht nur die Synagogen und werden die jüdischen Geschäfte zerstört. Auch das Leben einiger Figuren aus dem Kutscher-Kosmos ändert sich dramatisch.
Die Besonderheit der Rath-Romane bestand ja seit jeher in dieser eleganten, organischen Verbindung von Historie und Rätselraten, dem mit viel Liebe zum Detail entworfenen, klug analysierten Gesellschaftspanorama. Mit der intensiven, erschütternden Beschreibung der Pogromnacht ist Kutscher jetzt sein Meisterstück gelungen. Genau dort kommt man als Gesellschaft an, wenn man eine Politik der Ausgrenzung immer weiterführt – bei einem Pogrom, dem gewalttätigen Übergriff auf Andersdenkende, dem unwiderruflichen Bruch mit den Errungenschaften der Zivilisation.
Es ist leicht, sich mit dem Wissen von heute über die Menschen jener Zeit zu erheben. In „Rath“ sieht man sie alle im besten Wissen und Gewissen die falschen Entscheidungen treffen, die Politiker, die Polizisten, die Privatleute. Der Journalist und studierte Historiker Kutscher illustriert das sehr deutlich. Parallel zum Krimiplot veranschaulicht er, wie leicht man in eine Diktatur stolpern kann. Und wie schnell jeder Einzelne schuldig wird. Natürlich weiß man längst: Geschichte wiederholt sich nicht. Was man allerdings aus jenen Monaten im Herbst 1938 lernen kann, ist die enorme Gefährlichkeit von extremistischen Parteien. Ganz egal, welche Angebote und Versprechungen sie machen.
ULRIKE FRICK
Volker Kutscher:
„Rath. Der zehnte Rath-Roman“. Piper Verlag, 624 Seiten; 26 Euro.