Foul mit Bach

von Redaktion

Wie Plattenfirma und Elphi vom Konflikt um Gardiner profitieren

Mit „streitbar“ ist Sir John Eliot Gardiner nur unzureichend umschrieben. Die Deutsche Grammophon bringt ausgerechnet jetzt ein neues Weihnachtsoratorium mit seinen alten Ensembles heraus – eine Referenzeinspielung. © Getty Images

Im Vorverkaufsduell muss sich Sir John Eliot Gardiner geschlagen geben. Noch. Zwar sind für sein Konzert am 7. Dezember die drei unteren Preisklassen weg, doch für 112 und 135 Euro meldet die Elbphilharmonie genügend Karten. Anders exakt eine Woche später, bei den Ex-Ensembles von Gardiner, da wird gewarnt: „Nur noch wenige Tickets“. Hamburgs Edel-Saal macht da Reibach mit zwei extrem ähnlichen Abenden, es ist der zurzeit abstruseste Kampf auf dem Klassikmarkt.

Gardiner ohrfeigte einen Sänger

Bekanntlich haben sich der Monteverdi Choir und die English Baroque Soloists, die besten Truppen der Alten Musik, von ihrem Gründer Gardiner getrennt. Der hatte einen Bassisten geohrfeigt und sich daraufhin nach eigenen Angaben in Therapie begeben. Die Wiedervereinigung sollte in diesem Herbst mit einer Tournee gefeiert werden. Doch die britischen Ensembles hatten genug von ihrem Chef, der mit „streitbar“ nur unzureichend umschrieben ist.

Stattdessen reisen Monteverdi Choir und English Baroque Soloists mit Ersatzmann Christophe Rousset. Und was macht Gardiner? Gründete zwei neue Ensembles, The Constellation Choir & Orchestra, die am 7. Dezember erstmals öffentlich auftreten. Das wäre an sich nicht verwerflich. Dass der 81-Jährige auf seiner Tour allerdings exakt dieselben Werke aufführt, zwei Bach-Kantaten und eine Messe von Charpentier, die seine Ex-Formationen auch gerade präsentieren, das ist mehr als ein Foul. Es ist eine Kampfansage. Auf Gardiner-Art.

Der gastiert in Hamburg, Wien, Luxemburg, Dortmund und Versailles, Rousset in Mailand, Frankfurt, London und ebenfalls in Hamburg. Nur in Hamburg kreuzen sich also die Routen. Das Schisma der Barockszene wird von der Elphi ausgeschlachtet – unter anderem mit einer Desavouierung von Monteverdi Choir und English Baroque Soloists: Die Verantwortlichen betonen auf ihrer Webseite, dass ursprünglich ja Gardiner am 14. Dezember auftreten sollte und nun durch Rousset ersetzt wurde. Wer den großen Alten mit seinen jungen Ensembles erleben will, kann problemlos auf den 7. Dezember wechseln – oder die Tickets zurückgeben.

Eine weitere Firma gibt es, die den Kampf für sich ausschlachtet. Ausgerechnet jetzt bringt die Deutsche Grammophon eine Neuaufnahme von Bachs Weihnachtsoratorium heraus – mit Gardiner, dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists. Die Einspielung entstand im Herbst 2022, als noch alles in Butter war, zumindest scheinbar. Seinerzeit tourte Gardiner mit seinen früheren Jüngerinnen und Jüngern durch Europa, die sechs Kantaten wurden in der Londoner Kirche von St. Martin in the Fields mitgeschnitten. Es ist das Update einer legendären CD-Box: 1987 hatte Gardiner mit seinen Ex-Ensembles Bachs Hit erstmals auf Silberscheiben brennen lassen.

Wer das neue Weihnachtsoratorium hört, vergießt heiße Tränen über die Trennung. Tatsächlich glückte eine Referenzaufnahme. Wieder wedeln alle rasant und verblüffend durch schnelle Nummern. Aber das Sportive, die demonstrative Virtuosität der früheren Aufnahme, das rein Technikorientierte, all dies ist weg. Man nehme nur „Ehre sei dir Gott“, den Eröffnungschor von Kantate fünf, oder Arien wie „Großer Herr und starker König“ und „Ich will nur dir zu Ehren leben“: Gardiner & Co. haben den idealen Swing. Das hört sich nicht an wie ein Sprint, sondern wie das lockere, souveräne Spiel eines US-Basketballteams.

Auch in den gebremsten, introspektiven Stücken haben alle die perfekte Balance von Tempo, Agogik und Ausdruck erwischt. Und Hand aufs Herz: Die Alt-Arie „Schlafe, mein Liebster“ wird oft zur Geduldsprobe. In Gardiners Neuaufnahme singt Countertenor Hugh Cutting, und dies mit einer solchen Selbstverständlichkeit im Ausdruck und mit so großem Selbstbewusstsein in der Stimmtechnik, dass man sich fragt: Ob diese Arie je so gut, so erfüllt gesungen wurde?

Überhaupt sind, auch das typisch Gardiner, auf allen Positionen 1-A-Solistinnen und -Solisten unterwegs. Charakterstimmen, keine Schönklang-Apologeten. Beim Monteverdi Choir geht das noch weiter. Ohnehin trimmte Gardiner dieses Ensemble immer auf eine offensive Tongebung: Barock, man denke nur an zeitgleich entstandene Gemälde und Skulpturen, hat schließlich nichts mit veganer Kunst zu tun. Bei diesem Weihnachtsoratorium klingt der Monteverdi Chor noch rauer, unebener, doch auch hier macht das Lauschen Spaß: Wer sagt, dass Bach keine opernhafte Musik schreiben konnte?

In den Tempi ist Gardiner flexibler, abgeklärter. Rubati, Verzögerungen wie etwa am Ende der Choralzeilen waren früher für ihn ein No-Go. Überhaupt das genießerische Auskosten mancher musikalischer Wendungen oder ein Effekt, den eigentlich Barockromantiker mögen: Den Choral „Ich steh‘ an deiner Krippen hier“ singt der Chor (partiturwidrig) a cappella, dabei mit einer auch im Leisen enormen Tiefenschärfe und Präsenz – ein überwältigender Moment.

Alles deutet darauf hin, dass diese Aufnahme das letzte CD-Zeugnis der Arbeit von Gardiner, Monteverdi Choir und English Baroque Soloists darstellt. Ein finaler, großer Schwanengesang. Nach Gardiners Provokation mit den neu gegründeten Ensembles dürfte man nicht mehr zusammenfinden. Immerhin wird der Knall von britischem Humor begleitet: Sowohl Constellation Choir als auch Monteverdi Choir singen in ihren bevorstehenden Konzerten die Bach-Kantate BWV 110. Text des Eröffnungschores: „Unser Mund sei voll Lachens“.
MARKUS THIEL

Johann Sebastian Bach:

Weihnachtsoratorium. Monteverdi Choir, English Baroque Soloists (Deutsche Grammophon).

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