Mensch, wage mehr Menschlichkeit

von Redaktion

Neue Ausgabe der Zeitschrift „Das Gedicht“

Erteilt mit seiner Jahresanthologie „Das Gedicht“ regelmäßig zuverlässig Auskunft darüber, was sie derzeit umtreibt, unsere aufstrebenden wie arrivierten Poeten: Anton G. Leitner, Herausgeber von Deutschlands wichtigster Lyrik-Zeitschrift. © MM

Manchmal wirken Gedichte wie Zauberspiegel: Wer in sie hineinschaut, muss feststellen, dass sein edles Antlitz doch nicht zu einem Superhelden und Halbgott gehört, sondern zu einem „gründlichkeitsscheiterer“, „neunmalklugscheißer“ oder „lebenszeitraffer“, wie es der Lyriker Jürgen Flenker ausdrückt. Aber besteht nicht genau darin unsere „Menschlichkeit“? Weil dieses Wort eben nicht nur Mitgefühl und Nächstenliebe meint, sondern zugleich Unvollkommenheit und Schwäche im Sinne des Allzumenschlichen.

Lyrik bringt die Leser fast automatisch dazu, diesem Doppel- und Mehrfachsinn der Wörter nachzulauschen – und das führt meist zu mehr Menschlichkeit, weil das sinnierende Betrachten, egal ob von Wolken oder Worten, eine wohltuende Entschleunigung bewirkt. Insofern scheint es nur konsequent, wenn die neue Ausgabe von Deutschlands wichtigster Lyrik-Zeitschrift „Das Gedicht“ sich dem Thema „Menschlichkeit“ widmet. Und fast nebenbei erteilt diese Jahresanthologie, die von Anton G. Leitner im oberbayerischen Weßling herausgegeben wird, auch wieder zuverlässig Auskunft darüber, was sie derzeit umtreibt, unsere aufstrebenden wie arrivierten Poeten – darunter bekannte Namen wie Helmut Krausser, Jan Wagner oder Matthias Politycki, die mit Beiträgen vertreten sind.

Worüber also schreiben sie derzeit, die Dichter deutscher Zunge? Im neuen „Gedicht“ finden sich Verse über Kaffeetanten, fliegende Kühe und Wassertropfen, die in der Sonne glitzern: „ihr Glanz ist ein anderes Wort für Verschwinden“. Dieses Oszillieren zwischen Heiterkeit und Melancholie prägt tatsächlich auffällig viele Texte des Heftes. „Untröstlich sind wir und singen in höchsten Tönen“ heißt es fast programmatisch in einem Gedicht von Andreas Altmann – Zeilen, die als Motto über dem ganzen Band stehen könnten.

Es finden sich aber auch Gedichte mit eindeutig tragischem Schwergewicht, etwa ein Text von Ilma Rakusa, der vom Schicksal Vertriebener handelt und in zweifacher Hinsicht verstörend wirkt: „Das / Leben fühlt sich an wie eine Raubkopie“ lesen wir da, und wahrscheinlich hat kein Dichter je ein deutlicheres, passenderes Bild gefunden, um die Situation vertriebener Menschen erahnbar zu machen. Gleichwohl schreckt man beim Lesen auch aus anderen Gründen zurück. Denn muss nicht derart meisterliche Metaphorik fast frivol erscheinen angesichts des realen Leidens? Schaut man nicht etwas betreten drein ob der Delikatesse, die jedes Poesiegefunkel in diesem Kontext darstellt? Oder verbürgt umgekehrt erst dieser Luxus die Hoffnung auf Fortbestehen und Rückkehr des Humanen, weil Menschsein immer ein Überschuss ist jenseits der blanken Notwendigkeiten? Dass wir die Antwort darauf nicht kennen, zeigt erneut: Wir sind fehlbare, beschränkte Wesen. Zum Glück, denn darin besteht unsere Menschlichkeit.
ALEXANDER ALTMANN

Anton G. Leitner/Paul-Henrí Campbell (Hgg.)

„Das Gedicht“. Nummer 32, Anton G. Leitner Verlag, Weßling, 208 Seiten; 20 Euro.

Artikel 10 von 10