Campino und der Club der Dichter

von Redaktion

Der Toten-Hosen-Frontmann erklärt sich in seinem neuen Buch zum Fan der „Gebrauchslyrik“

Campinos neues Buch.

768 Lieder in rund 45 Jahren: Sänger Campino beschreibt, was ihn zu den Toten-Hosen-Texten inspiriert hat. © Britta Pedersen / dpa

Der Begriff Gebrauchslyrik ist schon hundert Jahre alt – erfunden hat ihn wohl Bertolt Brecht. Auch Erich Kästner hoffte, dass er sich zu dieser Art Dichter ohne Distanz zählen dürfe, und er brachte ihr Schaffen polemisch auf den Punkt: „Ihre Verse kann das Publikum lesen und hören, ohne einzuschlafen.“ Kein Wunder, dass Deutschlands Punkrocker Nummer eins, Campino, da eine Wesensverwandtschaft erkennt. Der 62-Jährige hielt im Frühjahr dieses Jahres Vorlesungen zum Thema – als Gast-Professor an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Jetzt hat er sie erweitert zu einem Buch zusammengefasst, mit dem Titel „Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer – Eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik“.

Das mag man leicht anmaßend finden, aber der Toten-Hosen-Frontmann sagt, er wolle sich gar nicht in eine Ahnenreihe stellen: „Es gibt einen Riesenunterschied zwischen Gedichten, die geschrieben werden, um für sich zu stehen, und Liedtexten“, betont er im Vorwort des Büchleins. Und tut das mit der Ahnenreihe dann natürlich doch, zum einen, weil er mit der Aussage indirekt Bob Dylan zitiert, der so was Ähnliches über seinen Literaturnobelpreis sagte. Zum anderen beruft sich Campino auf Kurt Tucholsky und dessen Beschreibung der Gebrauchslyrik: Deren Wirkung erfolge sofort, unmittelbar, ohne Umschweife. „Sie können sich vorstellen, diese Aussage hat mich direkt gepackt, weil sie in Worte fasst, was ich mit meinen eigenen Texten erreichen will.“ Ein bisschen fühlt er sich also schon zugehörig zum Club der Dichter.

Was dann folgt, ist aber keine bildungshuberische Abhandlung über angebliche literarische Einflüsse, sondern eine gesellschaftsgeschichtliche, autobiografische und lesenswerte Annäherung an die Texte der Toten Hosen. Campino erklärt, wie er zum Songschreiber geworden ist, welchen Einflüssen er gefolgt ist, was ihn inspiriert hat. Es geht um immerhin 768 Lieder in rund 45 Jahren.

Vom Thema Kriegsdienstverweigerung (er selbst musste monatelang beim Barras zubringen, bis über seinen Fall entschieden wurde) kommt er auf die ruppige und antimilitaristische Londoner Punk-Band Cock Sparrer genauso wie auf die politischen Gedichte von Kästner und Tucholsky (von denen er zugibt, sie erst viel später kennengelernt zu haben). Einige seiner eigenen Texte, etwa der sehr gelungene zum Song „Er sagt, sie sagt“ von 1995, haben ihren Ursprung im engsten Familienumfeld. In diesem Fall der stille Tod einer Liebesbeziehung, wie er ihn bei seinen Eltern erlebt hat und wie ihn auch Kästner in der „Sachlichen Romanze“ beschreibt. Prompt betont der Punker, er wolle „lediglich mit einem Augenzwinkern feststellen, dass sich hier ein Handwerker am selben Tisch wie der Meister bedient hat“.

Campino wird also sehr privat. Sein Hadern mit der Schule, das schwierige Verhältnis zu seinem Vater, dem Kriegsheimkehrer, Juristen und CDU-Mitglied. Aus der spießbürgerlichen Vorstadtenge flüchtet der Jugendliche in die aufkommende Punkbewegung, die aus England herüberschwappt, der Heimat seiner Mutter. Was er hier erzählt, ist die Entstehungsgeschichte der Toten Hosen.

Doch der Sänger reflektiert auch unsere heutige Zeit, in der sich seine Band in einer Kakofonie von Zuschreibungen, Bewertungen und Anfeindungen in den Sozialen Medien zurechtfinden muss. Der Druck, sich zu allem und jedem positionieren zu müssen, der Wandel des Sagbaren in jüngster Zeit: Die Risse zögen sich heute ganz anders durch die Gesellschaft als früher. „Gute Freunde, mit denen wir jahrelang klargekommen sind, stehen bei entscheidenden Themen plötzlich auf der anderen Seite.“ Campino beleuchtet die Empörungskultur, die AfD, Trump – und hier entfernt sich der Gebrauchslyriker von seinen Vorbildern. Er zitiert nur noch eigene Texte, und die weisen ihn trotz aller lauteren Absichten eben doch eher als Text-Handwerker aus.

Aber als einer mit Humor. Denn am Ende erlaubt sich Campino den Spaß, mit der Künstlichen Intelligenz zu spielen. Er gibt dem Programm ChatGPT die Anweisung, einen Text zum Thema Verlust zu schreiben – einmal im Stil von Campino, einmal im Stil von Kästner. Sein Fazit: „Es ist wie im wahren Leben: Auch in der KI glänzen die Texte von Erich Kästner deutlich mehr als meine.“
JOHANNES LÖHR

Campino:

„Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer – eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik“, Piper-Verlag, 155 Seiten, 16 Euro.

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