PREMIERE

Abgründe aus dem Bilderbuch

von Redaktion

Tschaikowskys „Eugen Onegin“ am Staatstheater Nürnberg

Mit Zitaten des 19. Jahrhunderts spielt diese Nürnberger Inszenierung, hier eine Szene mit Samuel Hasselhorn in der Titelrolle und Tetiana Miyus als Tatjana. © Bettina Stoess

Der Bart ist ab, ein Grauschleier hat sich aufs zurückgegelte Haar gelegt. Auch das Coole, die Macho-Attitüde, dieses „Mir kann keiner“, all das ist weg: Dieser Eugen Onegin ist kurz vor der Penner-Existenz, weite braune Anzüge mit Rüschenhemd trägt er schon lange nicht mehr. Doch eigentlich müsste der Mann tot sein. Zwischen dem Duell mit seinem einst besten Freund Lenskij und diesem Auftritt in einem russischen Edel-Club liegen rund 150 Jahre. So suggeriert es jedenfalls der Premierenabend am Staatstheater Nürnberg, der in Tschaikowskys Oper einen gewaltigen Zeitbruch klaffen lässt.

Regisseur Armin Petras ist da ganz radikal, um den Existenzumschwung der Bühnenfiguren zu erklären. Fürs Geschehen vor der Pause beschwört er mit Julian Marbach (Bühne) und Patricia Talacko (Kostüme) ein 19. Jahrhundert aus dem Bilderbuch. Wobei: Es sind, und das betrifft nicht nur die szenischen Versatzstücke, Zitate, in denen dieser „Eugen Onegin“ spielt. Als ob man Vergangenheit nachstellt, sie auch bis in die Karikatur überschießen lässt. Und mittendrin: Vorlagedichter Puschkin, der durch seine Erfindungen irrt, vergeblich eingreifen will, immer mit der stummen Frage auf den Lippen: Was habt ihr aus meinem Vers-Roman gemacht?

Dass der Dichter auch noch von einer Frau, Stephanie Leue, gespielt wird, gibt dem Abend eine Extra-Volte. Es ist ein bisschen viel, was Armin Petras auffährt. Als misstraue er den feinen, bald verheerenden Seelenschwingungen Tschaikowskys und Puschkins, die ihre Figuren auf sich selbst zurückfallen oder in Abgründe taumeln lassen. Ein unseliges Quartett mit Onegin, Tatjana, Lenskij und Olga, das in einem Kraftfeld aus vergeblicher Liebe, Eifersucht, Weltflucht und -ekel gefangen ist.

Immer wieder werden auch kommentierende Sätze per Video eingeblendet: Dramaturgen-Glutamat wie anderes und damit nur Äußerliches. Und manchmal, in den Solo- und Zweier-Szenen, vergisst Petras ob des Überbaus seine Protagonisten. Das letzte Wiedersehen zwischen Onegin und Tatjana zum Beispiel wirkt zwar choreografiert, aber nicht erfühlt – als habe da jemand lediglich Spielfiguren verschoben.

Wer erleben will, wie sich die Ebenen des Stücks ganz natürlich verzahnen, muss die Ohren aufsperren. Im Graben steht nämlich Jan Croonenbroeck, Erster Kapellmeister des Hauses. Der hat mit der Staatsphilharmonie Nürnberg das rechte Sensorium für diese Musik: viel Energie, viel Intensität, viel Flexibilität, aber kein Überdruck – ob in der leisen Melancholie oder in den dramatischen Verdichtungen. Es gibt wie selbstverständliche Tempo-Übergänge und geschmackvolle Rubati. Ab und zu klappert es in der Abstimmung mit der Bühne (was Croonenbroeck auffängt). Premierenhormone sind im Spiel, und manchmal steht der Chor einfach ungünstig.

Denkbar verschieden und damit richtig sind die Protagonisten besetzt. Samuel Hasselhorn verlässt sich in der Titelrolle auf seinen virilen Samtbariton, mühelos könnte er damit Schönheitspreise gewinnen. Das Dandyhafte steht ihm, für die Facetten Onegins wären zwei, drei Vokalfarben mehr zuträglich. Tetiana Miyus gestaltet ihre Tatjana mit dunklem, kühlem Sopranstrahl, kann sich singdarstellerisch leicht Raum verschaffen. Almerija Delic ist eine dämonische Amme. Und Sergei Nikolaev als Lenskij glückt die vielschichtigste Deutung: Nuancen, stufenlos pegelbare Dramatik, eine unverspannte Mezzavoce, alles steht ihm zur Verfügung. Auch die heldische Tenor-Legierung führt diese Figur weg vom Melancholischen, das Nürnberger Publikum feiert Nikolaev am heftigsten.

Für Nicolai Karnolsky als Gremlin hat die Regie ihren besten Einfall parat. Kein larmoyanter Fürst ist das, der seine Arie ausstellt, sondern ein Mafioso. Entsprechend rau und ironisch singt das Karnolsky. Sein Reich ist ein Club der Jelzin-Zeit, eine zynische Welt des falschen, erkauften Glücks. Egal, wo man sich auf dem (russischen) Zeitstrahl befindet, so zeigefingert Armin Petras mit seinem szenischen Bruch: Die Verhältnisse sind immer gleich. Ein grandioses Stück wie „Eugen Onegin“ hält das locker aus.

Nächste Vorstellungen

am 23. November, 1., 7., 15. Dezember, 20. und 26. Januar; Telefon 0911/660 69 60 00.

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