James träumt von einem luftigen Zauberwesen: Szene mit Ksenia Shevtsova und Jakob Feyferlik. © Katja Lotter
Hier kann sich das Ensemble einmal als Hauptakteur präsentieren: Choreograf Pierre Lacotte (1932-2023) hat dieses erstmals ganz auf Spitze getanzte Werk für die Gegenwart gerettet. © Katja Lotter
Weltflucht, Rückzug in Fantasie und Traumwelten mit verführerischen Fabelwesen – Stichworte zu Filippo Taglionis 1832 in Paris kreiertem Meisterwerk „La Sylphide“. Das Pariser Publikum wollte die Turbulenzen der Revolution, Napoleons Kriege und die Juli-Revolution von 1830 hinter sich lassen. Angesichts der auf Dauer angelegten Krise und der Kriege weltweit ist die Stimmung hierzulande gegenwärtig kaum anders.
Also ist für Taglionis „Sylphide“, soeben im Münchner Nationaltheater vom Bayerischen Staatsballett erstaufgeführt, genau der richtige Moment. Der historisch versierte Choreograf Pierre Lacotte (1932-2023) hat dieses erstmals ganz auf Spitze getanzte Werk 1972 im Auftrag des Pariser Balletts für die Gegenwart gerettet. Ohne Zweifel auch mit einigen tanztechnischen Neuerungen. Alle Hochachtung für das Staatsballett in einer mit höchst rasanter Fußarbeit, kniffligen Sprüngen und Pirouetten gespickten Choreografie.
Genau diese „Sylphide“-Erfahrung, dieses Training wollte Ballettchef Laurent Hilaire jetzt für sein Ensemble. Praktische Gründe spielten gewiss mit. Er selbst tanzte in der Pariser Fassung unter anderem die männliche Hauptpartie, den schottischen Bauern James. Als Ballettchef des Moskauer Stanislawski-Theaters von 2017 bis 2022 studierte er dort diesen Lacotte-Taglioni ein. Und Ksenia Shevtsova, die im Stanislawski schon die Titelrolle tanzte, zeigte nun hier, wie sie sich in das zarte luftige Wesen verwandeln kann, von elegant stählerner Spitze bis zu schwebenden „Ports de bras“.
James, noch schlafend in seinem Sessel, träumt von diesem Zauberwesen. Jetzt erwachend, lässt er sich von ihr umtanzen. Aber schon holt ihn die Wirklichkeit ein – die für diesen Tag festgelegte Heirat mit Effie. Gleich kommen die Gäste: eine Abteilung in blau-, eine zweite in rot-karierter Schottentracht. Alle feier- und tanzlustig. Noch nie hat man hierzulande ein Corps de ballet gesehen, das unentwegt und so blitzsauber die „battierten“ Sprünge hinkriegt, also die im Abstoßen vom Boden kurz gekreuzt angeschlagenen Beine.
Hier kann sich das Ensemble einmal als Hauptakteur voll präsentieren. Gemäß dem Zeitstil mit einem eingeschobenen Solo-Paar: Margarita Fernandes und Antonio Casalinho fegen da über die Bühne mit irre vertrackten Drehungen und Sprüngen. Und Jakob Feyferlik als James (ein Debüt) steigert in seinen Soli noch die männliche Dreh- und Sprung-Fertigkeit. Überraschend: Der mitschwingende Schottenrock verstärkt die plastische Wirkung seiner Bein-Technik. Zart stimmungsvoll dann sein „Pas de trois“ mit Carolina Bastos als Braut Effie und Ksenia Shevtsovas anschmiegsamer Sylphide. Hier hört man Musik von Ludwig Wilhelm Maurer, nämlich einen Auszug aus Filippo Taglionis Ballett „L’Ombre“ (Der Schatten). Komponist für „La Sylphide“ war Jean-Madeleine Schneitzhoeffer. Seine auf diese Handlung hin orientierte, eher verhaltene Partitur ist bei Dirigent Myron Romanul in besten Händen
Romantischer, aber auch tragischer wird es dann im zweiten, „weißen“ Akt. Vor einer schwarzen Waldlandschaft schmiedet die Hexe Magde – dargestellt von Robin Strona mit langhaariger Hexenperücke – böse Pläne. Ein vergifteter Schal, den Magde für die immer spielerisch aufgelegte Sylphide bereit hält, wird dieser zum Verhängnis. Zunächst erleben wir ein „Ballet blanc“ von 22 Sylphiden. Durch ihre wechselnden Formationen irrt James auf der Suche nach seiner Sylphide, findet sie, tanzt mit ihr, bis sie ihm den Schal entwendet, sich damit schmückt – und tot in seinen Armen zusammenbricht. Es gab viel Applaus. Dem Publikum hat es demnach gefallen. Dennoch wünscht man sich für die Zukunft eine inhaltlich zeitnahe, abendfüllende Kreation.
MALVE GRADINGER
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