Premiere

Lachen, weinen, leben

von Redaktion

Das packende Pflegedrama „Drinnen“ im Werkraum der Kammerspiele

Sensationelle Leistung einer großen Schauspielerin: Annette Paulmann als Regina, hier mit Sebastian Brandes. © JULIAN BAUMANN

Ein so starkes Bild hat man lange nicht mehr im Theater gesehen: Gegen Ende des Abends macht Regina, die Hauptfigur, den Kühlschrank auf, der die ganze Zeit unbeachtet am Bühnenrand stand, und es rauscht ihr eine Wagenladung unzähliger Puzzleteile entgegen. Besser kann man die Überforderung kaum symbolisieren, um die es in Matthias van den Höfels Pflege-Drama „Drinnen“ geht, mit dem er den Münchner Förderpreis für neue Dramatik gewann. Im Werkraum der Kammerspiele wurde die mit feinmechanischer Präzision gebaute Tragikomödie jetzt von Marion Hélène Weber inszeniert. Sie legt mit dieser Uraufführung die Abschlussarbeit ihres Regiestudiums am Salzburger Mozarteum vor, und wenn man Stück wie Inszenierung mal beherzt als Indikator nehmen will, ließe sich sagen: Unser Theatermacher-Nachwuchs zeichnet sich durch beachtliche Feinfühligkeit sowie handwerkliche Meisterschaft aus, aber ein Hang zu kühnen Formexperimenten oder gar rebellischer Respektlosigkeit ist nicht festzustellen. Fast fragt man sich, was aus diesen jungen Leuten noch werden soll, wenn sie schon am Anfang ihrer Karriere so mustergültig in der Professionalität angekommen sind. Droht da die Kunst womöglich so „barrierefrei“ zu werden wie die lange Kunstrasen-Rampe in Julia Bahns Bühnenbild?

Aber all das kann und soll nicht davon ablenken, dass hier ein absolut gelungener, ja packender Theaterabend zu erleben ist, ein perfekt getakteter Balanceakt zwischen Lachen und Weinen. In kurzen, exemplarischen Szenen erzählt das Stück vom Alltag Reginas, die ihren inzwischen 35 Jahre alten mehrfach behinderten Sohn David von dessen Geburt an zu Hause pflegt, natürlich mit Unterstützung von Fachpersonal. Der Vater des Kindes hat sich früh „verpisst“, wie es die Pflegepraktikantin (Luisa Wöllisch) etwas direkt ausdrückt. Aber dabei hat Regina sogar noch den Vorteil, dass sie „Upperclass“ ist, erfahren wir vom Profi-Pfleger (Martin Weigel), weil auch ihr Lebensgefährte (Sebastian Brandes) gut verdient.

Als der aber von seiner Firma das Angebot bekommt, den Aufbau einer neuen Fabrik in Peru zu überwachen, bricht Regina für viele Monate die seelische Unterstützung weg, und ihre völlige nervliche Überlastung tritt zutage. Man versteht sofort, dass Kleinigkeiten wie lachende Mädels sie stören, wenn sie im Park Ruhe sucht – oder dass auch sie andere nervt. Und ihre Freundinnen haben leicht reden, die erklären, dass sie „auch mal an sich denken“ müsse oder David nicht „zu Hause einsperren“, sondern in eine Pflege-Einrichtung geben solle. Wenn Annette Paulmann als Regina spürbar macht, wie all diese gegensätzlichen Normen, Ansprüche und Ideale den Menschen seelisch zerreißen, erlebt man einmal mehr eine sensationelle Leistung dieser großen Schauspielerin, die mit fast unmerklichen Mitteln eine Darstellung von höchster Eindringlichkeit erreicht.
ALEXANDER ALTMANN

Weitere Vorstellungen

am 19. und 20. Dezember; Telefon 089/ 23 39 66 00.

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