Ein Drogenboss, der sein Geschlecht in das einer Frau umwandeln lässt: Karla Sofía Gascón glänzt in dieser Rolle. © Neue Visionen
„Ich wünsche mir, wenn ich ins Kino gehe, ein unvergessliches Erlebnis“: Das verschafft Jacques Audiard in jedem Fall den Zuschauern seiner Filme. © Neue Visionen
Mit Filmen wie „Der Geschmack von Rost und Knochen“ oder „Dämonen und Wunder“ hat der französische Drehbuchautor und Regisseur Jacques Audiard nicht nur weltweit die Herzen der Kinofans gewonnen, sondern auch zahlreiche Preise, darunter die Goldene Palme in Cannes. Nun präsentiert der 72-jährige Altmeister sein bisher unglaublichstes Werk: „Emilia Pérez“, eine mitreißende Mischung aus Mafiathriller, Melodram und Musical über einen mexikanischen Macho-Drogenboss, der davon träumt, als Frau zu leben. Der vogelwilde Film kommt morgen in die Kinos, ist für fünf Europäische Filmpreise nominiert und geht für Frankreich ins Oscar-Rennen.
Was hat Sie als Franzose dazu bewogen, einen gesellschaftskritischen Film über Mexiko zu drehen?
Vor 35 Jahren hatte ich eine Freundin, die in Mexiko lebte. Damals habe ich das ganze Land ausgiebig bereist, fast jeden Winkel, mit dem Auto oder dem Bus. Das wäre heutzutage völlig unmöglich: Weite Teile des Landes könnte man gar nicht mehr betreten, ohne ständig um sein Leben fürchten zu müssen. Ultrabrutale Drogenkartelle haben längst die Macht in Mexiko übernommen; die Demokratie löst sich auf, Politik und Justiz sind korrumpiert, Femizide an der Tagesordnung. Und jedes Jahr verschwinden Zehntausende Menschen einfach spurlos. Absoluter Irrsinn!
Salma Hayek hat mir vor ein paar Jahren mit Tränen in den Augen erzählt, sie sei eigentlich von Natur aus eine große Optimistin, aber im Hinblick auf ihre mexikanische Heimat habe sie jede Hoffnung verloren.
Ich hatte kürzlich eine ähnliche Begegnung mit meinem Kollegen Guillermo del Toro, ebenfalls ein eingefleischter Mexikaner: Er erklärte mir, dass er mit seiner Familie ins Exil nach Los Angeles geflohen ist, nachdem sein Vater in seiner Heimatstadt Guadalajara gekidnappt worden und nur gegen eine Lösegeldzahlung in Millionenhöhe wieder freigekommen war. Ich liebe Mexiko nun seit dreieinhalb Jahrzehnten – und darum könnte auch ich heulen, wenn ich an die Zukunft des Landes denke.
Von alledem erzählen Sie in „Emilia Pérez“ – ausgerechnet anhand eines Drogenbarons, der sich zeit seines Lebens als Frau gefühlt hat. Wie kamen Sie darauf?
Durch den Roman „Écoute“ von Boris Razon. Da taucht in einem Kapitel ein Drogenboss auf, der eine geschlechtsangleichende Operation plant. Die Geschichte wird nicht weiter ausgeführt, aber ich fand die Idee so faszinierend, dass ich beschloss, sie zu klauen und eine solche Person zur Titelfigur meines neuen Films zu machen: einen mächtigen, weithin gefürchteten, extrem gewalttätigen Macho, der eine gigantische Sehnsucht nach Weiblichkeit verspürt.
Glauben Sie, dass Frauen bessere Drogenbosse wären als Männer? Vielleicht eine Spur menschlicher?
Die Frage habe ich mir auch schon gestellt. Doch nach meinen Recherchen zu diesem Thema bin ich ziemlich desillusioniert und pessimistisch. Denn es hat durchaus bereits weibliche Drogenbosse gegeben, und die waren sogar noch brutaler als ihre männlichen Kollegen – vielleicht, weil sie sonst nicht akzeptiert worden wären, wer weiß? Jedenfalls fürchte ich, dass Gier und Drogen jeden Anflug von Humanismus zerstören. Und das betrifft wohl alle Geschlechter gleichermaßen.
Nun servieren Sie Ihre ohnehin schon außergewöhnliche Geschichte auch noch in Form eines unkonventionellen Musicals. Lieben Sie dieses Genre?
Nein, überhaupt nicht – im Gegenteil: Die meisten konventionellen Musicals gehen mir ziemlich auf die Nerven. Da wird gelabert und gelabert, und dann kommt plötzlich eine Gesangs- und Tanznummer, alle hüpfen herum, und jemand drückt singend seine Gefühle aus, wobei er im Wesentlichen bloß das wiederholt, was wir vorher durch das Gelaber sowieso schon erfahren haben. Mir schwebte hingegen etwas anderes vor: Die Lieder, die gesungenen Abschnitte, sollten stets die Handlung vorantreiben – als integrale Bestandteile des Drehbuchs, der Dynamik, der Dramaturgie. Und ich wollte, dass alles organisch ineinander übergeht: Alltagsgesten in Choreografie, gesprochene Dialoge in Sprechgesang, Rap oder Gesang und wieder zurück.
Die Übergänge sind tatsächlich verblüffend elegant. Wie haben Sie das geschafft?
In monatelanger enger Zusammenarbeit mit den Songschreibern Camille und Clément Ducol sowie dem Choreografen Damien Jalet. Ausgangspunkt für die Liedtexte waren meistens die Dialoge der jeweiligen Szenen. Wir alle hatten indes noch nie etwas Vergleichbares gemacht – man könnte sagen, auf dem Gebiet des Musicals waren wir allesamt Jungfrauen. Anders als in den USA gibt es bei uns in Frankreich keine Tradition dieses Genres: Wenn Sie ein Buch über französische Musicals schreiben würden, käme ein sehr schmales Bändchen dabei heraus. Insofern blieb uns nichts anderes übrig, als diverse Sachen auszuprobieren und wieder zu verwerfen, so lange, bis es funktionierte.
Das heißt, Sie haben sich im Prinzip das Musical gebastelt, das Sie selbst gerne sehen wollten?
Ja, das trifft es ziemlich gut. Auch ich selbst wünsche mir, wenn ich ins Kino gehe, ein unvergessliches Erlebnis: nicht irgendeine leicht konsumierbare Dutzendware, an die du dich schon eine Stunde später nicht mehr erinnern kannst, sondern einen Film, der dich überrascht, packt, aufwühlt und umhaut – und der in dir die unbändige Lust weckt, ihn noch mal zu sehen. Das muss das Ziel sein!