PREMIERE

Blinde Hassliebe

von Redaktion

Juliane Köhler und Manfred Zapatka als Tochter und Vater im Resi

Will seine Macht nicht aufgeben: Richard (Manfred Zapatka) bindet seine Tochter (Juliane Köhler) mittels einer schweren Erkrankung an sich.

Von kalter Abwehr bis zu nostalgischer Zärtlichkeit reicht das Gefühlsspektrum zwischen der Tochter und dem hilfsbedürftigen Vater. © Fotos: SANDRA THEN

Herzlicher Applaus, der sich entschlossen verstetigt und immer wärmer wird, bis er sich zu, zugegeben halbherzigen, Standing Ovations auswächst. So ging der Premierenabend von „Blind“ am Münchner Residenztheater mit Manfred Zapatka zu Ende. Der wischte sich bei jedem neuen Auf-die-Bühne-Wiederkehren mehr und mehr die Augen. Kollegin Juliane Köhler versuchte, es so zu tricksen, dass er alleine vor „seinem“ Publikum zu stehen käme, aber der Gentleman ließ das nicht zu. Ehrlichen Zuspruch erntete auch die Schriftstellerin Lot Vekemans, die man in München von „Judas“ (Kammerspiele in der Zeit von Johan Simons) und „Niemand wartet auf dich“ (ebenfalls Staatsschauspiel) kennt, sowie das Regie-Team um Matthias Rippert.

Dieses schuf, was eine gute Inszenierung ausmacht: Rippert, Fabian Liszt (Bühne), Alfred Morina (Kostüme) und Robert Pawliczek (Musik) öffneten dem Text und dem Schauspiel-Duo einen Raum, um sich optimal zu entfalten. Man konnte ohne ablenkenden Klimbim die Kunst der Menschwerdung auf der Bühne bewundern. Köhler und Zapatka mussten nicht in einem Regiekonzept zappeln und Sätze, Thesen, Erklär-Häppchen aufsagen. Sie sind eigenständige Künstler, die einem Drama einen so humanen wie ästhetisch unersetzlichen Mehrwert schenken.

Zapatka zeichnete mit feinsten Nuancen in Stimme und Körpersprache einen Vater, der den Machtverlust am Leibe spürt – ob er wirklich blind wird und einen Tumor hat, bleibt in der Schwebe –, die Macht indes nicht aufgeben will. Vor allem über seine Tochter. Ausgerechnet seine Schwäche ist sein neues Machtmittel. Selbst egoistisch und an Moral nicht im Mindesten interessiert, will er Helen über ihre sozialen Ideale an sich fesseln. Manfred Zapatka formt ein charmantes Schlitzohr, einen liebenden Vater und einen eingefleischten Rassisten, Manipulator, Ausbeuter. Man muss Richard mögen, gleichzeitig ist er widerlich.

Sein asoziales Verhalten gegen Mensch und Natur versinnbildlicht Lot Vekemans im wiederkehrenden Motiv des Wassers. Das Lebenselement ist rar – wir sind wohl in einem postkolonialen Staat Afrikas –, alle müssen sparen, es gibt Regeln. Den Alten kümmert das nicht, er verschwendet Wasser. Helen hält ihm vor: „Grundwasser ist nicht dein Wasser, Papa!“ Doch Solidarität ist für ihn Schwäche. Die wirft er, längst selbst schwach und auf solidarisches Verhalten angewiesen, dauernd seiner Tochter vor.

Sie lebt als Rechtsanwältin für arme Mandanten und Frau eines schwarzen Schriftstellers das genaue Gegenteil. Das Drama entwickelt ohne Geschwätzigkeit und Holzhammer-Erklärungen einen bühneneffizienten Disput über Regeln des guten und vernünftigen Zusammenlebens. Deswegen sind das Stück „Blind“ und seine deutsche Erstaufführung am Resi heute knallaktuell und steht klar in der wieder wichtig gewordenen Tradition der Aufklärung. Juliane Köhler gestaltet die hin- und hergerissene Helen in all ihren Facetten von kalter Abwehr bis nostalgischer Zärtlichkeit.

Die Szene, in der sie ihren stinkenden Vater wäscht, wird zum Höhepunkt des Zusammenspiels. Richard ergibt sich nach komischem Sträuben in die Position des Schwachen, sie wird mütterlich geschäftig. Da sind wir auf der Ebene purer Menschlichkeit angelangt: so schlicht, so großartig, so überlebensnotwendig. Dass sich Richard davon fast ganz getrennt hat, symbolisiert die Fensterwand seines Hauses aus satiniertem Glas vorne am Bühnenrand. Sie wirkt bereits wie ein eiserner (Theater-)Vorhang, der später tatsächlich herunterfährt: Ausgrenzung und Selbst-eingesperrt-Sein sind das Gleiche. Lot Vekemans’ Werk stürzt sich nicht in die zurzeit modischen Verbal-Prügeleien, es hört beide Seiten; kanzelt nicht ab, sondern denkt nach.
SIMONE DATTENBERGER

Weitere Vorstellungen:

diesen Samstag und 5., 12., 22. Dezember, 3. Januar; Karten unter 089/21 85 19 40 und www.residenztheater.de/karten.

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