Man hat ja vor lauter Disney-Süßlichkeit gar nicht mehr so recht vor Augen, wie brutal diese Grimm’schen Märchen sind. Dass Schneewittchens böse Stiefmutter zur Strafe in rot glühende Schuhe treten und darin so lange tanzen muss, „bis sie tot zur Erde fiel“. Oder wie freudig die garstige Hexe ausruft, dass sie morgen den Hänsel schlachten und kochen werde. Und doch lässt uns hier kein Märchen verstört zurück. Ob „Sterntaler“, „Hänsel und Gretel“ oder „Frau Holle“: Allen liegt ein kindliches Verständnis von Gut und Böse zugrunde – bei dem das Gute immer siegt. Ein Glück also, dass sie immer wieder neu aufgelegt werden, wie in diesem Reclam-Büchlein. Denn welche Märchen uns besonders zusagen, verrät viel über unseren eigenen Charakter. Ganze – hoch spannende – Abhandlungen gibt es über die Psychologie in den alten Geschichten und deren Deutung. In unserer übervorsichtigen, an Trigger-Warnungen reichen Zeit tut es wohl, die unzensierten Märchen wieder herauszuholen, in denen der Zustand der Welt nicht – wie in vielen Heiti-Teiti-Kindergeschichten heutzutage – beschönigt wird. Ob Goldmarie oder Sterntaler: Wer redlich bemüht und ehrlich ist, findet am Ende sein Glück. Wer wollte nicht daran glauben? Erst recht zur Weihnachtszeit.
KJKBrüder Grimm: „Die Sterntaler. Märchen“. Reclam Verlag, Ditzingen, 54 Seiten; 5 Euro.