PREMIERE

Ein Volltreffer

von Redaktion

Max Lindemann inszenierte „Früchte des Zorns“ am Münchner Volkstheater

Eine bessere Zukunft im Visier haben Al (Julian Gutmann, li.) und Tom Joad (Max Poerting). © arno declair

Die Erde ist verbrannt. Die Sonne knallt vom Himmel. Kein Halm wächst mehr. Wenn sich tatsächlich einmal eine Gewitterwolke entlädt, kann die verdorrte Erde das Wasser nicht speichern. Aber erst der anschließende, tagelange Staubsturm reißt die Menschen aus ihrer Lethargie.

Was klingt wie einer der jüngsten Sommer in Brandenburg oder anderen hitzegeplagten Dürreregionen Deutschlands, liegt schon lange zurück. Im Jahr 1939 schrieb der US-Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger John Steinbeck (1902-1968) seinen Roman „Früchte des Zorns“. Dessen erste Seiten lesen sich angesichts des gegenwärtigen Klimawandels erschreckend aktuell. Auch die Lösung, die Steinbeck seine Großfamilie Joad aus Oklahoma für ihre elende Lage finden lässt: Der vielköpfige Clan bricht auf gen Westen. Kalifornien lautet der Name ihres Paradieses. Dort sind die Lebensbedingungen besser, die Löhne höher, und Arbeit und gepflegte Unterkünfte gibt es in Hülle und Fülle. Heißt es. Spätestens jetzt ist klar, warum Regisseur Max Lindemann diesen ziegelsteindicken Roman als Adaption auf die Bühne des Münchner Volkstheaters gehievt hat. Brennend akut sind die Themen, die Steinbecks Text und das von Johannes Nölting und Anouk Kesou fürs Theater erarbeitete Buch verhandeln.

Die heute als Wirtschaftsflüchtlinge diffamierten Menschen nannte man damals zwar noch Wanderarbeiter. Der Rest – vom Raubbau an der Natur über die daraus resultierende ökologische Katastrophe, von der Migration und dem Hass auf die Flüchtlinge sowie dem Kollaps der Wirtschaft bis hin zur skrupellosen Profitgier der Plantagenbesitzer – kommt einem an diesem zwar drei Stunden langen, aber keine Minute langweiligen Abend oftmals vor wie Nachrichten der „Tagesschau“.

Sehr durchdacht gestrafft und dramaturgisch klug verdichtet konzentriert sich Lindemann auf wenige, prägnante Szenen des Romans. In ihnen beleuchtet er schlaglichtartig das Schicksal einzelner Familienmitglieder.

Die Idee, den hypnotisch die bittere Not der Dreißigerjahre beschwörenden Anfangstext und im Verlauf immer weitere, einzeln oder im Chor gesprochene Zwischentexte von scheinbar unbeteiligten Erzählern zusammenfassen zu lassen, ist großartig. Denn diese an Bertolt Brechts Episches Theater erinnernde Brechung sorgt angesichts der eindringlich gespielten Szenen für eine notwendige Konzentration aufs Wesentliche. Sie rückt dadurch die von der großen Emotion beinahe verdeckten politischen Mechanismen und die Parallelen zur Gegenwart wieder in den Vordergrund.

Steinbecks Buch ist genau genommen ein Roadtrip mit häufig wechselnden Handlungsorten entlang der legendären Route 66. Lindemann projiziert für diese Bewegung häufig Videofilme vorbeiziehender Steppen auf eine im Hintergrund gespannte Leinwand. Zusätzlich steht auf der linken Bühnenseite ein MiniaturModell der jeweiligen Bühnenbauten, das ebenfalls den Charakter der Versuchsanordnung betont. Anfangs schießt der Mais aus dem von Bühnenbildnerin Marlene Lockemann so originell und abwechslungsreich ersonnenen Boden. Dann verdorrt er. Später wachsen Schilfhalme am Ufer eines Flusses oder eine Zeltstadt taucht auf, die heutigen Flüchtlingscamps von Moria bis Dschabaliya fatal gleicht.

Die Reise der Joads in ihre ungewisse Zukunft ist eine Abfolge öder, steiniger und staubiger Landschaften. Durch die Veränderungen auf, neben und hinter der Drehbühne gelingt es Lindemann, seiner Adaption eine Menge Bewegung zu verleihen. Manches wirkt sehr filmisch, erinnert nicht nur an John Ford, sondern auch an Chloé Zhaos „Nomadland“.

Diesen Eindruck verstärken die Kostüme von Eleonore Carrière im ausgeblichenen Western-Style. Fast schon plakativ kann man die Schattenrisse nennen, zu der jede Spielszene zu Beginn und Ende erstarrt.

Am besten wird diese in ihrer Tristesse virtuos umgesetzte und vom facettenreich agierenden Ensemble ohne Ausnahme exzellent gespielte Sozialstudie aber immer dann, wenn Lindemann dem alten Steinbeck zusätzlich zum Gottvertrauen und dem Glauben an die Demokratie ein wenig Feminismus unterschiebt. Dank Anne Stein als Mutter Joad sind hier ein paar unvergessliche Szenen entstanden.
ULRIKE FRICK

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am 10., 11. und 23. Dezember
sowie am 4. und 12. Januar;
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