PREMIERE

Zerrissen zwischen Liebe und Schuld

von Redaktion

„La Forza del destino“ zur Saisoneröffnung an der Mailänder Scala

Alleiniger Mittelpunkt: Anna Netrebko als Leonora in „La forza del destino“ zum Saisonstart an der Mailänder Scala. © Brescia e Amisano/Scala

Zuckerbrot wurde während der vier Stunden gereicht, und das nicht wenig: Schon nach ihrer ersten Arie zeigte sich die Gala-Gemeinde freigiebig, später nach dem „Pace, Pace“ wollte der Applaus fast nicht enden. Doch als Anna Netrebko am Ende allein vor den Vorhang trat, schlugen vor allem die Loggionisti zu – mit kleinen Buh-Peitschen von den Rängen. Eine so feine wie erbarmungslose Unterscheidung in Sängerin und (politisch umstrittener) Mensch?

Das dürften harte Wechselbad-Jahre werden, sollte sich die Diva an der Mailänder Scala als Inventar zur glamourösen Saison-Eröffnung etablieren. 2023 sang sie (nur gestraft von einer Mini-Demo draußen) in Verdis „Don Carlo“, nun bei dessen „La forza del destino“ war sie alleiniger Mittelpunkt. Auch weil ihr und dem Haus der Tenor abhandenkam: Jonas Kaufmann hatte bekanntlich vor Probenbeginn aus „familiären Gründen“ abgesagt. Er wurde ersetzt durch Brian Jagde, in München als Premieren-Radamès bekannt.

Der nähert sich in Mailand dem Alvaro von der heldischen Seite, mit viel Vokal-PS und gelegentlichen Lyrismen. Letzteres gelingt der Netrebko dank des feinen Flötenregisters noch am besten. Doch die Stimme ist groß geworden, Dramatik driftet in (bewusste) Drastik. Zur zwischen Liebe und Schuld zerrissenen Leonora passt das. Der (Über-)Druck beschert ausdrucksstarke Momente – aber auch ein starkes Vibrato in der Mittellage und Phrasen, die sich eine Schwebung neben der korrekten Tonhöhe bewegen. Man spürt, wie die Netrebko den ganzen Abend über arbeiten muss.

Eine sichere Bariton-Bank ist Ludovic Tezier (Don Carlo), Alexander Vinogradov singt einen Padre Guardiano mit Raufaser-Bass. Musikdirektor Riccardo Chailly macht im Doppelsinn klar, wer hier der Chef ist. Eine Muster-„Forza“. Die Polystilistik des Stücks zwingt er nicht zusammen, sondern bedient mit dem Scala-Orchester wirklich alle Facetten. Eine Aufführung in wundersamer Balance. Wo’s bei den Kollegen operettig wird, hat bei Chailly alles Tiefe und Geschmack. Den Furor überhitzt er nicht, sondern kümmert sich um Details. Wie er überhaupt gern einen Gang zurückschaltet, um die Kostbarkeiten der Partitur zu zeigen. Auf der Zielgeraden legt er enorm an Intensität zu.

Der Regisseur heißt Leo Muscato, den muss man sich nicht merken. Mit Federica Paolini (Bühne) und Silvia Aymonino (Kostüme) lässt er zwei Drittel des Abends im 18. Jahrhundert spielen, die ständig aktive Drehbühne Aktion vorgaukeln und alles im staubigen Arrangement versacken. Der letzte Teil spielt in der Gegenwart und heuchelt Ambition. Ein vom Krieg gebeuteltes Volk bettelt um Wasser. Für die Schrecken des Stücks ist alles zu malerisch. Auftrag ausgeführt: Wegen der Regie hat noch kaum jemand bis zu 3000 Euro für die Serata Inaugurale zu Beginn der Scala-Saison überwiesen.
MARKUS THIEL

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