Zwischen Narr, Entführer und Ironiker: Die Querschnittlähmung von Samuel Koch ist wie weggewischt an diesem Abend, hier eine Szene mit Micaela Gramajo. © Maurice Korbel
„,proteus 2481‘ von Aischylos. Ein Satyrspiel“ kündigten die Münchner Kammerspiele an. Nun haben sie das Verwirrspiel ein bissl entwirrt und schreiben auf das Programmblatt „,proteus 2481‘ von Aischylos bzw. Thomas Köck. Ein Satyrspiel“. Eines ist da schon klar: Der österreichische Autor und Regisseur (Jahrgang 1986) liebt von ganzem Herzen das Theater – und, uns zu tratzn. Das gestaltet er indes so charmant, schwungvoll, Bühnen-barock, Philosophie-gespickt sowie mit enorm spiel- und sangesfreudigen Mitstreitern, dass ihm und vor allem seiner Truppe das Uraufführungspublikum am Freitagabend nach 75 fetzigen Minuten in der Therese-Giehse-Halle zu Füßen lag.
Allerdings will sich Köck nicht nur einen Jux machen nach dem Motto: „und sie/ werden nicht hören was sie heute sehen sie/ werden nicht sehen was/ sie heute hören sie/ werden nicht sehen was sie sehen was/ sie hören werden sie/ nicht sehen sie …“ Köck wirft uns vielmehr schon beim ersten Auftritt der Satyrn in fulminanten Glitzerkostümen (stets pointiert witzig: Martin Miotk) die „Grenzen der Norm“ an den Kopf, sind Satyrn doch Menschtierwesen und die glamouröse Showtruppe sehbehindert. Uns ist da die „Grenze“ bereits wurscht, denn der Chor ist einfach mitreißend. Und Andreas Spechtls Musik samt fulminantem Solo der Schlagzeugerin Lourdes De Melo tun gut eine Stunde das Ihrige dazu.
Mit dieser hochtourigen, perfekt unperfekten Show jubelt Thomas Köck den längst wehrlos amüsierten Zuschauern harte Themen unter wie Kolonialismus oder Christianisierung, fruchtbare Vermischung von Kulturen, Tod von Mensch, Natur und Demokratie, Relativität von Zeit – sein Proteus-Fragment reist schier endlos durch die Geschichte(n). Bemerkenswert sein Nachdenken übers Theater. Das läuft von Aischylos‘ „Orestie“ (die gibt es!) bis zur österreichischen Operette, von der französischen Tragödie bis zu den Ruinen einer Spielstätte, die ein Alien-Cyborg für eine Kläranlage hält; formal von Songs bis zur Talkshow-Parodie.
Alle bekommen auf der spielfreundlichen Intergalaxis-Bühne von Barbara Ehnes ihren Auftritt. Das mexikanische Duo Micaela Gramajo und Bernardo Gamboa (Kollektiv teatro bola de carne) verwandelt sich gewissermaßen proteisch in unterfränkische Mönche in Südamerika, die obendrein als überüppig ausstaffierte Prozessions-Madonnen daherkommen, in Helena und Menelaos, die auf Proteus‘ Insel gestrandet sind und wegwollen, und in Schauspieler, die auf der Reise zum Münchner Theater im Flughafen ebenfalls gestrandet sind.
Johanna Eiworth gibt als Chorführerin in der Maske eines Uralten mit Endlosbart genauso wie Bernardo Arias Porras als Bote in den Klamotten einer jungen Dame/Diva/Außerirdischen dem Publikum im Chaos ein wenig Halt und Überblick. Beide sind sanft schräg-komisch, ohne je zu überziehen. Übrigens genauso wie Gizem Sahin und Manfred Gutermann aus der „Blindgänger“-Truppe, die das herrliche Streitgespräch des Theater-Normierers Gottsched und seiner praxisnahen Frau, der berühmten Gottschedin, knackig auf die Umlaufbahn bringen. Samuel Koch gibt hingegen als Proteus den Ironiker, der immer auf der Schneide von Allwissenheit und Nichts-Wissen(-Wollen) agiert. Mal ist er Narr, mal Racine mit Menelaos huckepack (tolle Idee!), mal Entführer, mal Turner im Planetenmodell.
Wie es sich für einen Künstler gehört, stellt Thomas Köck mit seinem neuen Werk viele Fragen und überlässt es uns, darüber nachzudenken – oder bloß Spaß zu haben. So oder so: Er hat Theaterzauber entfacht. Und der lebt von der Fantasie. Am augenfälligsten ist das bei Koch, dessen Querschnittlähmung durch diverse SpielEinfälle einfach weggewischt ist. „Nichts ist real“, wie die Satyrn singen. Ach ja, Helena und ihr Gatte können Proteus doch noch überlisten und von Naxos abhauen.
SIMONE DATTENBERGER
Nächste Vorstellungen
am 3., 4., 18., 20., 22. Januar; Karten unter 089/23 39 66 00 oder unter muenchner-kammerspiele.de.