Expressionistisch geschminkte Gesichter und Schwarz-Weiß-Ästhetik: Der erste Teil mit dem Brecht-Stück erinnert an die Fünfzigerjahre, hier Oliver Stokowski und Barbara Horvath. © SANDRA THEN
Man wähnte ihn längst degradiert zur Schullektüre. Werke wie „Der gute Mensch von Sezuan“ oder „Mutter Courage und ihre Kinder“ kannte man allenfalls noch aus dem Deutschunterricht. Doch vor einigen Jahren setzte eine Renaissance des wohl berühmtesten Augsburgers ein. Besonders jüngere Künstler wie der vielfach preisgekrönte schwedische Kinoregisseur Ruben Östlund („Triangle of Sadness“) beziehen sich in ihrer Gesellschaftskritik auf den Dramatiker.
Gerade in Krisenzeiten wie den gegenwärtigen, wenn die Argumente immer elastischer und die Nachrichten oft nur schwer von den Fake News zu unterschieden sind, hat Bertolt Brecht viel Substanz und Klarheit zu bieten. So ist es gar nicht verwunderlich, dass einem die Aktualität des Lehrstücks „Die Gewehre der Frau Carrar“ praktisch mit der Faust ins Gesicht knallt am Premierenabend im Münchner Marstall.
Brecht schrieb das während des Spanischen Bürgerkriegs angesiedelte Bühnenstück im Exil. Es sollte ein Appell sein, sich nicht widerstandslos entrechten und peinigen zu lassen. Die Fischerswitwe Theresa Carrar (absolut umwerfend: Barbara Horvath) glaubt, sich aus den Auseinandersetzungen mit den Faschisten heraushalten zu können. Ihre Söhne sollen lieber fischen gehen als in den Krieg ziehen. „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen“, lautet ihr Mantra. Weshalb sie die Gewehre des verstorbenen Gatten versteckt und das Leben ihrer Söhne durch unpolitische Neutralität schützen will. Aber ist es nicht dringend notwendig, sich gegen einen ungerechtfertigten Angriff von außen zur Wehr zu setzen?
Im Laufe der 50 Minuten im ersten Teil dieses von Regisseurin Luise Voigt so klug inszenierten Abends kommen von Frau Carrars Bruder Pedro (Oliver Stokowski) über eine junge Kämpferin (Naffie Janha) und die Nachbarin Frau Perez (Evelyne Gugolz) bis zum Pater (Florian Jahr) einige Menschen in die aus breiten Holzlatten gezimmerte Hütte und versuchen, Frau Carrar und ihren jüngeren Sohn José (Pujan Sadri) vom Krieg zu überzeugen. Doch erst als die Frau vom Tod ihres ahnungslos fischenden Ältesten hört, ist sie bereit zu kämpfen. Denn ein Leben ohne jegliche Parteinahme ist nicht möglich. Und Schweigen im entscheidenden Moment ist kein Pazifismus, sondern Feigheit.
Optisch erinnert das Ganze an frühe Inszenierungen des Stücks, besonders an den DDR-Fernsehfilm von 1953 mit Helene Weigel, Ekkehard Schall und Erwin Geschonneck. Zwischen den hellbeigen Holzwänden, -möbeln und Requisiten sticht die schwarze Garderobe aller Schauspieler markant hervor. Die stummfilmhaft expressionistisch geschminkten Gesichter, die gezierte Gestik, das leicht flackernde Licht und die überakzentuierte Aussprache mit dem rollenden R verstärken den Eindruck, sich in einem Schwarz-Weiß-Film aus den Dreißiger- oder Vierzigerjahren zu befinden. Brecht selbst war mit dem Drama nie ganz zufrieden. „Zu viel Einfühlungsdramatik, zu wenig Reflexion“, befand er und empfahl, eine Dokumentation des Spanischen Bürgerkriegs mit seinem Text zu kombinieren.
Im Bayerischen Staatsschauspiel kam man jetzt auf eine noch bessere Idee und ließ im Anschluss eine in der Gegenwart angesiedelte Fortsetzung spielen. „Würgendes Blei“ lautet der Titel des Sequels, das der 1983 geborene Theater-Autor Björn SC Deigner verfasst hat. Nach einer nach Programmheft „lauten Bühnenverwandlung, ähnlich einem Knallgeräusch“ krachen mit einem beachtlichen Getöse die Bretter der Hütte zusammen, und auf den Trümmern entsteht wirklich etwas Neues.
Anfangs holt Deigner die Carrar-Figuren, die vorher durch die extreme Stilisierung den Stempel des Beispielhaften trugen, direkt in unsere Mitte: Die weiße Schminke ist von den Gesichtern gewischt, die Kleidung zwar noch dunkel, aber zeitgemäßer. Das Kanonengrollen und die herabfallenden Bomben bilden nach wie vor den bedrohlichen Klangteppich im Hintergrund (Musik: Friederike Bernhardt). Doch statt der Schlacht von Malaga oder der Belagerung von Madrid stehen jetzt die Annexion der Krim oder die Kursk-Offensive als Parallelen zur Wahl.
Die fromme Hoffnung, dass nach einem Krieg nie wieder ein weiterer folgen möge, macht jede nachfolgende Generation wieder zunichte. Was am Ende spricht, ist das Maschinengewehr (Florian Jahr), das aufzählt, welche noch teuflischeren Waffen ihm nachfolgen werden: „Clusterbomben“, „Drohnen und selbstfahrende U-Boote“, „luftdruckgesteuerte Schnellfeuerwaffen“ und „Laserkanonen“. Ein bis ins kleinste Detail großartiger und unvergesslicher Abend.
ULRIKE FRICK
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