NEUERSCHEINUNG

Eine Stadt im Ausnahmezustand

von Redaktion

Helmut Newtons legendäre Hommage an „Berlin, Berlin“

Stärkung für die Nacht: am „Wurstmaxe“, 1991.

Im Selbstporträt: Helmut Newton im Jahr 1936 in Berlin (Ausschnitt). © Helmut Newton Foundation,

Models im Jahr 1959 vor dem Brandenburger Tor. Die Aufnahme entstand für eine Fotostrecke im Magazin „Constanze“, das von 1948 bis 1969 erschien. © Helmut Newton Foundation, Berlin

Seit 1982 ist sie immer wieder in Berlin: die US-amerikanische Fotografin Nan Goldin (71). Die Eröffnung ihrer Ausstellung „This Will Not End Well“ im November in der Neuen Nationalgalerie geriet allerdings zum politischen Skandal, weil die Künstlerin von ihrer Redefreiheit Gebrauch machte und mit ihren Anschuldigungen gegenüber Benjamin Netanjahus Kriegsführung der offiziellen Political Correctness deutlich widersprach.

Der Gesinnungsfreiheit, wie sie einst im wild-fröhlichen West-Berlin herrschte und darüber hinaus auch noch in den ersten Jahren des wiedervereinten Ganz-Berlins, kann man jetzt noch einmal begegnen, und zwar in den Fotos des legendären Fotografen Helmut Newton (1920-2004) und dem Bildband über seine Geburtsstadt, „Berlin, Berlin“.

Darin findet auch Nan Goldin ihren Platz (1991) – zwischen den Porträts von Otto Sander (1987) und David Bowie (1983). In jedem Foto, ob Porträts, Mode- oder Aktbilder, inszenierte Stimmungs-Arrangements, Kneipen- oder Kioskmomente, Mauerblicke, Landschaften oder historisch bedeutsame Orte – immer ist dieses spezielle Berlin-Gefühl jener Zeit eingefangen. Begleitet wird die Bilder-Schau aus verschiedenen Sammlungen von den kompetenten Texten des Herausgebers Matthias Harder.

Natürlich spielten Mauer, Brandenburger Tor oder Glienicker Brücke eine gewichtige Rolle. Irgendwie war immer Ausnahmezustand. Was macht Wim Wenders, der im roten Jackett wie ein Pfau in einer tristen, grau-schwarz-schmutzigen, durch die Mauer halbierten Straße (1981) posiert, ausgerechnet an diesem toten Ort? Oder warum lächelt Hanna Schygulla so hold, obwohl sich im Hintergrund Mauer und Todesstreifen von ihrer bedrohlichen Seite aufspielen?

„Ich suche nach Zille-Figuren, Kindern aus dem Volk“, sagte Newton einmal. Und er fand sie. An die Mauer angelehnt, wohlgemerkt auf westlicher Seite, sitzen die Jungen und Mädchen, oder sie balancieren über stillgelegte S-Bahn-Gleise. Hier mischt sich das Unendliche mit einer armseligen Fröhlichkeit.

Doch man war auf Hoffnung aus in diesem Moloch an der Spree, der Newtons Lieblingsstadt ist. Immer wieder die Berliner Mädchen, ob die vollbusige Blondine nachts beim „Wurstmaxen“ am Kurfürstendamm sich mit einer Essensration für die nächste Runde stärkt, die Blondbezopfte und -bekränzte im Uniformlook vor einem Schaufenster mit Altweiber-Trikotagen lacht oder das nackte Mädchen mit preußischer Pickelhaube und hohen Parade-Stiefeln, hineinmontiert in die wüste Reichstags-Baustelle, strammsteht. Nackt sind, wie bei Newton nicht anders zu erwarten, in diesem Bildband so viele. Besonders anziehend aber ist jenes schöne Wesen, das wie auf einem alten Gemälde nur seine Rückenpartie präsentiert, denn es hockt vor dem Fenster auf einem Sofa. Den Store hat es leicht beiseitegeschoben und wirft – vermutlich voller Heißhunger – einen Blick auf das gegenüberliegende Café. Newtons Text dazu: „Es gibt hier unzählige Konditoreien. Die Kuchen sind großartig. So wie die Frauen.“

All diese Fotos erzählen die Geschichten und damit die Geschichte der Stadt. Dass dazu auch jener Baum in der Königsallee gehört, auf dessen Höhe Walther Rathenau erschossen wurde, sowie die Brücke über den Landwehrkanal, wo man einst Rosa Luxemburgs Leichnam gefunden hatte, macht dieses großartige Buch noch einmal extra kostbar.
SABINE DULTZ

Helmut Newton:

„Berlin, Berlin“. Herausgegeben von Matthias Harder. Taschen Verlag, Köln, 242 Seiten; 50 Euro.

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