PREMIERE

Große Gefühle

von Redaktion

Dickens‘ wundervoller „Oliver Twist“ im Deutschen Theater

Ein großartiges Ensemble – und nur ganz wenige Requisiten: Mehr benötigt Regisseur Paul Stebbings nicht, um „Oliver Twist“ in der Fassung von Christian Auer eindrucksvoll auf die Bühne zu bringen. © Alexander Bornschlegl

Ein Kind in Nöten, das hat schon immer die Herzen der Erwachsenen gerührt. Im Jahr 1837, als der englische Schriftsteller Charles Dickens den ersten Teil seines Fortsetzungsromans „Oliver Twist“ in der Zeitschrift „Bentley’s Miscellany“ veröffentlichte. Auch heute noch, nach gefühlt unzähligen Theater-, Kino-, TV-, Comic- und Musical-Bearbeitungen des Stoffes über den Waisenjungen Oliver Twist, der im Armenhaus einer britischen Kleinstadt aufwächst, leidet man zweifellos mit, wenn dem fast verhungernden zwölfjährigen Buben der Nachschlag beim Mittagessen verweigert wird und man ihn deswegen aus dem Arbeitshaus jagt, woraufhin er in noch elendere Kreise in London gerät.

Im Fall der Inszenierung im Deutschen Theater in München liegt das mit dem sofortigen Mitfühlen aber auch an dem ausnahmslos großartigen Ensemble. Dem hat der Münchner Komponist und Autor Christian Auer die deutschsprachige Fassung dieser extrem verschlankten Dickens-Musical-Version von Tom Johnson ganz offensichtlich auf den jeweiligen Leib geschrieben. Nur sechs Menschen auf der kleinen, sparsam ausgestatteten Bühne braucht es, um in der umsichtigen Regie von Paul Stebbings die gesamte Welt des umfangreichen Dickens-Romans in den Silbersaal des Deutschen Theaters zu zaubern.

Die großen Chor-Nummern vergangener Musical-Adaptionen sind gestrichen. Christian Auer setzt in seiner mal anrührend-balladigen, mal erfrischend jazzigen Fassung ganz zu Recht auf die sechs Stimmen und deren enormes A-cappella-Talent. Vollkommen egal, ob die Sängerin gerade Oliver oder dessen sterbende Mutter Agnes, den Langfinger Dodger oder den Henker gibt.

Auf besonders charmante Weise nutzt die Inszenierung ihre kaum vorhandenen Kulissen. Ein Sarg kann nämlich problemlos mal ein Tisch oder ein Bett sein, und hochkant gestellt auch eine Haustür oder ein richtig gutes Versteck. Hier ein Vorhang aus grünem Satin, dort eine seitlich gespannte Wäscheleine, sofort ist der jeweilige Handlungsort als Wildnis oder Gaunerlager zu erkennen. Manchmal werden die originellen Einfälle kurz erklärt: „Baum“ – der Darsteller hält einen Ast hoch. Anschließend einen zweiten. „Wald“. Was sonst?! Durch diesen Wald flieht der kleine Oliver (gesungen von der vielversprechenden jungen Mezzosopranistin Theresa Mandlik), nachdem er dem schrecklichen Dasein im Armenhaus entkommen konnte. Und bald schon den Taschendieb Artful Dodger (Eva Regan) kennenlernt, der ihn in die Bande des Hehlers Fagin (Gareth Davis) mit in die Großstadt London nimmt. Dort bekommt Oliver zwar mehr zu essen als jemals zuvor in seinem tristen Leben. Doch von seiner eigentlich so noblen Herkunft aus bestem Hause und Enkel des schwerreichen Mr. Brownlows, eines Mitglieds im House of Lords, ahnt der Junge nichts. Das goldene Medaillon, das ihm seine im Kindbett sterbende Mutter während einer dramatisch mit Flackerlicht und lautem Donner eingerichteten Gewitterszene in die kleine Hand drückt, schnappt sich blitzschnell die geizige Witwe Mrs. Corney.

Die sechs starken Sänger wechseln zwischen verschiedenen Rollen der Romanvorlage hin und her. Alle machen ihre Sache in dieser temporeichen Bühnenfassung sehr gut, bringen eine ansprechende Mischung aus großer Emotion und britischem Understatement auf die Bühne. Auch wenn der brutale Unsympath Bill (Oliver Polenz) oder der Part des Oliver-Twist-Großvaters Brownlow für Bass Michael Mantaj vielleicht nicht ganz so ergiebig sind wie Fagins Paraderolle für Gareth Davis. Er und Tanja Maria Froidl, die unter anderem als Nancy, Ganovenliebchen und Prostituierte mit goldenem Herzen brilliert, bringen den Saal derart zum Mitfiebern und -fühlen, dass man ihnen das auch für jüngere Zuschauer geeignete Happy End wirklich von Herzen gönnt.
ULRIKE FRICK

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bis 29. Dezember;
Telefon 089/55 234 444.

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