Warum Rockstars nicht in Rente gehen

von Redaktion

„Hope I get old before I die“: Die Kulturgeschichte einer alternden Pop-Gesellschaft

Authentisch ohne Stöpsel: Eric Clapton unplugged. © UME

Songs aus der Midlife-Crisis: Nick Lowe ist ein Pionier. © Yep Roc

Schreit noch wie ein Junger: Mick Jagger balzt mit Lady Gaga im Mitschnitt „Rolling Stones Grrrr – live“. © Kevin Mazur

Für immer „fab“: Die Ex-Beatles Paul McCartney (li.) und Ringo Starr beim letzten Konzert von McCartneys „Got back“-Tour am 19. Dezember 2024 in London. © Mpl Communications/Mj Kim

Als Paul McCartney im Jahr 1985 beim Live-Aid-Festival auftritt, wird er begrüßt wie ein weiser Greis, der kurz mal vom Berg herabgestiegen ist, um den Kindern seinen Segen zu erteilen. Um der alten Zeiten willen. Der Ex-Beatle ist gerade 43 geworden. Als McCartney 2022 im englischen Glastonbury vor einem noch größeren Publikum singt, ist er einer der wenigen Künstler, auf die sich ein Festivalpublikum des 21. Jahrhunderts einigen kann. Er ist mit 80 Jahren mittendrin, ein relevanter Popstar. Wie kam es dazu, dass Musiker einfach nicht in Rente gehen wollen – und wir sie fürstlich dafür bezahlen, damit sie es nicht tun? Der britische Musikjournalist David Hepworth geht dieser Frage auf den Grund. Wir stehen am Ende einer Entwicklung, die vor rund 40 Jahren begonnen hat – diese These stellt er in seinem Buch „Hope I get old before I die“ auf, der Kulturgeschichte einer alternden Pop-Gesellschaft.

Der Titel ist natürlich ein typisch britisches Wortspiel. Es verdreht den Text ins Gegenteil, den Pete Townshend 1965 für den Hit „My Generation“ von The Who schrieb. „Hope I die before I get old – hoffentlich sterbe ich, bevor ich alt werde.“ Damals war Pop strikt der Jugend vorbehalten, die jeden über 25 mit Argwohn betrachtete. Und selbst Anfang der Achtziger hörten 40-Jährige in der Regel nicht mehr die Musik, die sie als Teenager bewegt hatte. Damit sich das änderte, brauchte es Impulse.

Das Zeitalter des Spektakels

Der erste davon war Hepworth zufolge Live Aid. Jene zwei Benefiz-Festivals, die zeitgleich in England und den USA stattfanden und weltweit über Satellit übertragen wurden. Mit ihnen begann das Zeitalter des Spektakels. Um genau zu sein, mit dem Aufritt von Queen am 13. Juli 1985 um kurz nach 18.30 Uhr. Denn Freddie Mercury verstand, dass Live Aid in erster Linie eine Fernsehveranstaltung war. Also performte der Sänger vor allem in die mobile Kamera, die ein BBC-Mitarbeiter auf der Schulter trug. Er lotste diesen in die Bühnenmitte und ließ ihn das rhythmische Klatschen der Menge zu „Radio Ga-Ga“ für die Welt bannen. Ein ikonischer Augenblick. Konzerte waren ab jetzt nicht nur was für junge Fans, sondern auch ein Event im heimischen Pantoffelkino.

Pop feiert seine eigene Geschichte

Ein Wallhalla alter Helden war im Pop bis Ende der Siebziger gar nicht denkbar – möglichst im Wochentakt hatte da alles neu und aufregend zu klingen. Ahmet Ertegün, Gründer von Atlantic Records, sah das anders. Auf sein Betreiben hin wurde Anfang 1986 die „Rock’n’Roll Hall of Fame“ gegründet, in der verdiente alte Bands und Solo-Künstler ewig leben sollten – perfekt getimt für eine Generation, der schon graue Schläfen wuchsen. Es hieß nun nicht mehr: Was alt ist, kann weg. Man war eine „Legende“.

Auch Rock-Rebellen machen Kohle

Wenn es eine Band gab, die das Establishment auf Abstand hielt, dann The Grateful Dead. Die Hippies zeichneten sich vor allem durch ihren riesigen Appetit auf illegale Drogen aus. Besonders ihr Gitarrist Jerry Garcia, von Fans liebevoll „Captain Trips“ genannt, war für eine Hausfrau im Mittleren Westen der USA wohl der schlimmste vorstellbare Albtraum. Doch 1987 kamen die Eismacher Ben Cohen und Jerry Greenfield auf die Idee, etwas von dem Outlaw-Image der Dead tue auch ihren Produkten gut. Sie nannten ihre „Ben & Jerry’s“-Schoko-Kirsch-Creme „Cherry Garcia“ – und plötzlich war die Band auch Spießern ein Begriff. Kurzfristig nutzte das den Musikern, die plötzlich wieder massig Platten verkauften. Langfristig weist es den Weg zu den Kleiderständern von H&M, an denen heute mit T-Shirts von Ramones, Motörhead, Nirvana und Slayer Rebellion zum kleinen Preis feilgeboten wird.

Konzerte werden zu Mega-Shows

1989 dämmerte den Rolling Stones, dass in puncto Konzerte das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht war. Sie hatten sieben Jahre nicht mehr getourt und auch keine große Lust, es überhaupt noch einmal zu tun. Aber sie hatten auch einen neuen Manager, der ihnen vorrechnete, was man verdienen konnte, wenn man Konzertbesuchern nicht nur Livemusik und Bier verkaufte, sondern im großen Stil Devotionalien anbot – zugleich noch Großsponsoren für Werbeverträge an Land zog und die Übertragungsrechte der Shows an Bezahl-Sender verhökerte. Bis zu 75 Millionen Dollar, so die Schätzung, machten die Stones mit der „Steel Wheels“-Tour, ihrer ersten Mega-Konzertreise, der noch viele folgen sollten. Die Stars hatten sich an einen gewissen Lebensstil gewöhnt und waren auch nicht mehr die Jüngsten – da musste man ihnen schon einen Anreiz bieten für die Reise um die Welt. Mit den Gagen wuchsen aber auch die Ansprüche des Publikums: Die SpektakelSpirale dreht sich bis heute.

Pop für die Midlife-Crisis

In den Achtzigern hatte der Musiksender MTV noch propagiert, dass Popmusik bunter und sexier als das Leben zu sein hatte. Für alternde Stars war das nichts – es sei denn, sie hielten sich wie ZZ Top im Hintergrund und ließen langbeinige Models durchs Video staksen. So war es ein Segen, als der Sender seine „Unplugged“-Reihe ins Leben rief, in der die alten Recken in der Midlife-Crisis zumindest so tun konnten, als seien sie heilfroh, wieder nur mit akustischen Instrumenten auf der Bühne zu sitzen. Authentisch wie in den alten Zeiten – eine gelungene Inszenierung.

Den Midlife-Crisis-Rock erfunden hat wohl Nick Lowe. Er hatte als junger Mann Punk produziert und wundervoll witzige Pop-Alben herausgebracht, die ihn aber nicht reich machten. Erst als die Haare weiß wurden, fand der Schwiegersohn von Johnny Cash seine Bestimmung: britische Selbstironie in Reinform zu gediegenem Singer-Songwriter-Sound. Die in Lieder gegossene Erkenntnis, dass ein Mann ab einem bestimmten Alter niemanden mehr für sein Unglück verantwortlich machen kann außer sich selbst. Einer der besten Songs: „Lately I’ve let Things slide“ – „In letzter Zeit habe ich mich ein bisschen gehen lassen“.

Alte Helden werden endgültig salonfähig

Die Neunziger brachten ein Revival alter Popmusik, das sich gewaschen hatte. Hätten die Sex Pistols sich 1976 noch lieber die Sicherheitsnadeln aus den Ohrwascheln gerupft als zuzugeben, dass sie überhaupt beeinflusst wurden, plauderten Oasis 1994 in jedes Mikrofon, wie wichtig Beatles und Bowie für sie waren. Präsident Bill Clinton spielte Saxofon, Premier Tony Blair herzte die Pop-Prominenz bei jeder Gelegenheit – und selbst die Royal Family machte Zugeständnisse an die neue Zeit.

Beim Staatsbegräbnis für Lady Di 1997 sollte Elton John – immerhin bekennender Kokain-Fan – in Westminster Abbey eine neue Version seines alten Hits „Candle in the Wind“ spielen, den er einst für Marilyn Monroe komponiert hatte. Sein Freund Bernie Taupin dichtete ihm den Text um – und Elton sagte zu. Allerdings nur unter der Bedingung, dass er einen Teleprompter bekam. Zu groß war die Angst, dass er vor einem Milliarden-Publikum an den TV-Geräten aus Versehen in den alten Text umschwenken könnte, demzufolge die Verstorbene nackt aufgefunden wurde. Seiner Bitte wurde stattgegeben. Und Pop endgültig die Musik für alle Anlässe.

Schätze in den Archiven

Als Beatles-Produzent George Martin Ende der Achtziger die EMI-Archive nach brauchbarem Material für eine Wiederveröffentlichung durchforstete, sagte er: Fehlanzeige. Er hatte nach fertigen Songs gesucht. Doch das war nicht, was die nachgeborenen Fans wollten, die kannten ja die Greatest Hits schon. Sie wollten eine authentisch klingende Zeitreise ins Aufnahmestudio der Sechziger. Als 1995 die drei Doppel-CDs der „Beatles Anthology“ erschienen, waren darauf deshalb verworfene Durchläufe von Songs, Gequatsche, Instrumental-Versionen. Der Erfolg machte Schule: Heute ist der Markt geflutet von hochpreisigen Wiederveröffentlichungen, die neben dem regulären Album allerlei alten Studio-Schnickschnack bieten.

Das Netz bevorzugt die Rock-Dinos

Lange galt das anarchistische Internet als Chance für junge Musiker. Heute dominieren Streaming-Musikplattformen das Geschäft, was in erster Linie den etablierten Oldies zugutekommt. Sie wurden in Jahrzehnten groß, als das Geschäftsmodell der Musikindustrie ihnen die Zeit und Freiheit ließ, eine Menge Songs und Alben anzuhäufen, für die das Publikum heute bereit ist, viel Geld auszugeben. Während unzählige neue Bands darum kämpfen, überhaupt ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auf der anderen Seite ist online alles gleichzeitig verfügbar. Junge Hörer kommen also neben aktuellen Hits von Charlie XCX auch mit Klassikern von den Monkees in Berührung – insbesondere dann, wenn sie Paul McCartney auf Instagram folgen, der vor ein paar Tagen gut gelaunt einen Song der Sechziger-Band am Rande seiner ausverkauften „Got back“-Tour trällerte. Er ist 82 Jahre alt.

Freunde bis ans Lebensende

Es geht also hauptsächlich ums Geld – aber nicht nur. Die Babyboomer haben als Musiker und als Publikum gelernt, dass sie nicht „würdevoll“ altern und ihre jugendlichen Vorlieben aufgeben müssen wie ihre Eltern. Und sie brauchen einander. Für die Fans werden die rüstigen Bewohner des Planeten Showbiz immer wichtiger. „Sie sind wie ein Anker in unserem Dasein“, schreibt Hepworth. „Unsere imaginären Freunde bis ans Lebensende.“ Und die Rockstars? „Wie sagt ein altes Sprichwort: Ein Musiker zu sein, ist kein Job. Es ist eine unheilbare Krankheit.“
JOHANNES LÖHR

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