Im Inntal brechen alle Dämme

von Redaktion

Zweiter Abend der Erler Festspiele mit einer konzertanten Aufführung von „I puritani“

Die Einspringerin als Königin des Abends: Jessica Pratt übernahm kurzfristig die Partie der Elvira. © Xiomara Bender

Gestern noch Königin der Nacht an der Bayerischen Staatsoper, jetzt die zeitweise wahnsinnige Elvira im Festspielhaus Erl: Hört sich locker an, es liegen ja auch nur 60 Kilometer dazwischen. Wie viel Schweiß, Nerven und noch viel mehr dies gekostet haben muss, lässt sich kaum erahnen. Diese konzertante Aufführung von Bellinis „I puritani“ – mehr Feuerprobe geht nicht fürs Besetzungsbüro. Zwei Sopranistinnen kamen krankheitsbedingt abhanden, Nummer drei ist mit Jessica Pratt nicht nur Ersatzlösung, sondern sogar derzeit bestmögliche Wahl.

Dass die Britin in letzter Sekunde dazustieß, ist ihr kaum anzumerken. Die Elvira hat sie nicht nur im Kehlkopf, sondern im kleinen Finger. Eine flötengleiche Höhe, leichtgängige, auf dem Atem liegende Koloraturen, dazu Bitterstoffe in der Mittellage: Gerade Letzteres ermöglicht Jessica Pratt ein Charakterporträt, das über die Zirkusnummer hinausreicht. Vom Stimmzuschnitt hat sie wenig gemeinsam mit ihrem Bühnenpartner, wohl aber das Schicksal: Auch Levy Sekgapane ist als Arturo ein Einspringer. Sein feiner, schmaler Tenor bildet den klanglichen Gegenpol. Die Eleganz im Lyrischen nimmt für ihn ein, ebenso sein Wagemut. Der Südafrikaner riskiert tatsächlich (wie legendäre Kollegen) ein hohes, sehr kopfstimmig gemischtes, hohes F auf der Zielgerade des Werks.

Dieses nachzuerzählen, geschweige denn zu inszenieren, ist eine kaum zu knackende Nuss. Eine Frau zwischen zwei Männern und in politischen Wirren, die darob umnachtet, sich aber fürs Finale wieder erholt: „I puritani“ funktionieren als konzertante Schlagerparade vielleicht am besten. Trotzdem fürchtet man anfangs um den zweiten Abend unter Jonas Kaufmanns Intendanz. Die Aufführung startet mit zu viel Dampf, Dezibel und Testosteron. Lorenzo Passerini ist ein Dirigent, der das Maximum aus der Partitur herausholen will. Körpereinsatz und musikalischer Wille sind nicht unsympathisch, zielen aber (besonders vor der Pause) stilistisch daneben. Passerini bringt viel Zug in die Angelegenheit, blickt aber aus der Perspektive des frühen Verdi, manchmal auch des Verismo auf den Feinzeichner Bellini.

Die Kerle aus den tieferen Vokallagen nehmen das als Einladung. Mattia Olivieri, eigentlich ein sehniger Kavalierbariton, donnert seinen Riccardo auf bis kurz vor die Macho-Karikatur. Dass seine Stimme schöner, farbenreicher, flexibler klingt, wenn er zwei Gänge zurückschaltet, müsste ihm jemand bis zur Zweitaufführung verraten – ab und zu ist es ja auch zu hören. Bassist Giorgi Manoshvili, als Giorgio nicht nur Stimmbesitzer, sondern auch Stilist, führt es vor. Nach dem phonstarken Kumpel-Duett brechen im Publikum alle Dämme, es erzwingt ein Da Capo. Überhaupt ist der zweite Festspieltag im Vergleich zur „La bohème“ (siehe oben) ein Riesenschritt Richtung Gesangsfest. Mit Blick auf die vielen konzertanten Pläne zeichnet sich da ein Teil von Jonas Kaufmanns Erler Dramaturgie ab: feinste Vokalkost für Opernhits, in kurzer Probenzeit arrangiert und unbelastet von Regie – wen interessiert da schon Inhaltliches?
MARKUS THIEL

Weitere Aufführung

am 4. Januar, tiroler-festspiele.at.

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