Für zwei Konzerte kommt Herbert Blomstedt in dieser Woche zum BR-Symphonieorchester. © Astrid Ackermann
Er ist der dienstälteste Dirigent der Welt und eine Legende, möchte das aber nicht unbedingt thematisieren. Herbert Blomstedt gastiert am Freitag und am Samstag beim BRSymphonieorchester. Auf dem Programm stehen Strawinskys „Psalmen-Symphonie“ und Mendelssohn Bartholdys „Lobgesang-Symphonie“. Dass der Doyen der Musikszene 97 Lenze zählt, ist bei ihm wörtlich zu nehmen.
In beiden Werken werden teilweise dieselben Texte vertont: „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn“. Lassen die verschiedenen Arten der Vertonung Rückschlüsse auf die Religiosität der Komponisten zu?
Der 150. Psalm ist beiden gemeinsam, das stimmt. Es handelt sich wirklich um zwei verschiedene Arten der Religiosität. Vielleicht müssen wir uns ein bisschen umstellen, um Strawinskys Religiosität zu verstehen. Mendelssohn war als zum Protestantismus konvertierter Jude ein sehr individueller Christ. Er musste, als er 16, 17 war, ein Bekenntnis aufschreiben und Auskunft geben, an was er glaubt und an was er nicht glaubt. Das hat er auf 20 Seiten und ganz ausführlich getan. Was zeigt, wie stark er sich mit der Thematik auseinandergesetzt hat.
Wann ist Ihnen die „Lobgesang-Symphonie“ als Dirigent erstmals begegnet?
Ganz spät, vor ungefähr neun Jahren. Ich war lange Zeit auf Abstand zu diesem Werk und kannte es nicht so gut. Die ersten drei, rein instrumentalen Sätze hatten mir nicht zugesagt. Besonders den ersten fand ich ein bisschen schablonenhaft. Überhaupt fand ich, dass die „Lobgesang-Symphonie“ nicht die Qualität seiner großartigen „Schottischen Symphonie“ erreichte. Doch dann entschloss ich mich, den „Lobgesang“ zu studieren, und begriff, dass dieser eine ganz andere Qualität hat. Wie Mendelssohn hier genau auf die Bibeltexte reagiert und sie umsetzt, finde ich faszinierend. Und was mir noch klar wurde mit Blick auf die rein instrumentalen Sätze: Man kann auch Gott ohne Text loben! Das ist mir sehr nahe, ich empfinde dasselbe.
Es gibt in der „Lobgesang-Symphonie“ eine Art Tal- und Bergfahrt. Nach dem glaubensfesten Beginn geht es nach unten zum zweifelnden, ängstlichen Tenor-Solo „Hüter, ist die Nacht bald hin“, bis wir durch den anbrechenden Tag erlöst werden. Befinden wir uns, weltpolitisch gesehen, gerade in der Rolle des Tenors?
Ich glaube schon. Es ist eine sehr starke Stelle, weil auch die musikalischen Mittel so klar und verständlich sind. Das intensivste Gefühl von Mendelssohns Religiosität empfinde ich aber im Choral „Nun danket alle Gott“. Es ist sehr bewegend, wie sich Mendelssohn einfühlt in Bachs Musik. Er schreibt allerdings ein sehr langsames Tempo vor, das wir heute von den Bach-Chorälen nicht gewöhnt sind. Ich habe mich lange gefragt, wie ich mich zu diesem langsamen Tempo verhalten soll. Aber ich habe begriffen, dass ich mich auf Mendelssohn einlassen muss. Die erste Strophe bei Mendelssohn ist a cappella, bei der zweiten kommt das Orchester dazu, und der Chor singt nun unisono. Sehr bewegend. Als ob plötzlich die gesamte Menschheit im Konzertsaal singt und Gott dankt.
Glauben Sie, dass diese Psalmen-Texte für ein heutiges Publikum eine Rolle spielen? Oder ist es nicht ähnlich wie bei einer Bach-Passion: Die Menschen registrieren zwar die Choräle, finden sie schön, wissen aber wenig um den Sinn dahinter?
Das kann man mit Ja und Nein beantworten. Aber dafür sind wir Interpreten da. Wenn es uns gelingt, diese Botschaft auch musikalisch zu vermitteln, dann hilft das unserem Publikum. Dieses muss sich natürlich etwas auseinandersetzen damit und offen sein. Gerade bei Bachs Chorälen ist es so, dass man als Konzertbesucher nicht sofort den besonderen Puls dieser Stücke für sich findet. Bachs Auswahl der Choraltexte ist großartig. Überwältigend ist vor allem das Ende der Johannes-Passion, für das Bach sehr kritisiert wurde – er hat im Schluss-Choral Ostern und die Auferstehung vorweggenommen, und das am Karfreitag! Es war aber Bachs Botschaft gerade an diesem Tag: Trotz Tod gibt es Hoffnung.
Gibt es auch andere Werke wie die „Lobgesang-Symphonie“, die Sie sich aufgehoben oder zunächst nicht verstanden haben?
Das sind wirklich nur Ausnahmen. Ich warte noch auf die Zeit, in der ich Mendelssohns „Reformations-Symphonie“ auf der gleichen Ebene wie den „Lobgesang“ oder seine anderen Symphonien sehe. Das Stück habe ich tatsächlich noch nicht gewagt. Ich halte es für ein schwaches Werk. Mendelssohn selbst hat ja immer wieder geäußert, er möchte die „Reformations-Symponie“ nicht drucken lassen. Aber es gibt doch für uns Dirigenten so viele herrliche Werke, die auf uns warten. Wir können nicht alles machen. Und wir müssen nicht alles können. Was wir müssen: uns verändern. Dazulernen. Erfahrungen sammeln. Ich empfinde mich heute ganz anders auch als vor zehn Jahren. Bei der Beschäftigung mit dieser Musik im hohen Alter nimmt man ganz andere Stärken dieser Werke wahr.
Nicht alles können müssen: War das bei Ihnen ein Lernprozess?
Es gibt so viel wunderbare Musik, die ich gern aufführen möchte und die mich auch verändern könnte. Aber man hat eben nicht so viel Zeit. Ein Dirigentenleben ist zu kurz – besonders, wenn mal alles so genau erarbeiten möchte, wie es meiner Natur entspricht. Ich muss erst alles in mich aufnehmen, bevor ich überhaupt wage, es zu interpretieren.
Das heißt, Sie sind am Ende eines Konzerts nie ganz zufrieden?
Ich bin meistens sehr unzufrieden. Ich freue mich, dass mein Publikum und das Orchester erfüllt von einem Abend sind. Meine Erwartungen sind einfach noch höher. Man muss auch jedes Mal neu anfangen. Vielleicht klappt es auch erst, wenn man das Werk zehn, manchmal sogar hundert Mal dirigiert hat.
Wir haben während der Corona-Zeit ein Gespräch geführt. Damals sagten Sie: „Ich bin ein unverbesserlicher Optimist, es geht alles vorüber, irgendwann, irgendwie.“ Sind Sie noch immer dieser Auffassung in der aktuellen weltpolitischen Situation?
Das wird zunehmend schwerer. Es gibt Anlässe, sehr pessimistisch zu sein. Aber: Ich bin aus Prinzip Optimist! Ich habe neulich einen Brief des Theologen Karl Barth gelesen. Er schrieb, dass über die Welt nicht in Washington oder Moskau entschieden werde, sondern weiter oben. Dass alles gut wird, darüber können wir nicht mit unseren Kräften allein entscheiden. Ich kann nur mit Blick auf mein Leben sagen: Optimismus hat sich immer gelohnt. Es gibt immer einen besseren Ausweg. Ich erinnere mich an meine erste große Enttäuschung als Dirigent. Ich hatte gehofft, in meinen ersten Jahren ein größeres, besseres Orchester zu finden. Doch das hatte ich verpasst. Ich war darüber sehr traurig. Mein Kompositionslehrer hatte mich getröstet. Er sagte: „Ich wollte Kompositionsprofessor in Stockholm werden, das hat nicht geklappt, heute bin ich sehr dankbar dafür. Ich bekam als Selbstständiger die Freiheit, mich noch besser zu entwickeln.“ Das stärkte mich. Wenn man verzweifelt ist, sollte man nie zu kurzfristig denken.
Muss man also Zufriedenheit erst lernen?
Ja. Ich war außerdem nie ein Karrierist. Ich habe nie ein Orchester erobert. Während der vielen Jahre wurde es mir immer geschenkt. Das habe ich in jeder Lebensstufe erfahren: Wenn ich so weit war, dann war das neue Orchester da. Das gibt mehr Seelenruhe, und man kann sich auch im hohen Alter weiterentwickeln. Es heißt ja immer, die persönliche Entwicklung sei mit 30 Jahren abgeschlossen. Das ist nur der Anfang! Auch mit 70, 80, 90 muss man sich weiterentwickeln.
Das heißt im Umkehrschluss: Sie waren noch nie so gut wie jetzt.
Ich will das so nicht sagen. Ich finde mich nie großartig. Die Reaktion der Orchester ist in gewisser Weise meine Rettung. Sie spielen immer besser mit mir. Wenn das darauf beruhen sollte, dass ich selbst ein bisschen besser geworden bin, dann ist das gut. Aber bei mir ist immer genügend Platz für Zweifel. Und gerade weil die Orchester immer besser mit mir spielen, sagt mir das: Es gibt noch Entwicklungsmöglichkeiten nach oben. Wenn ich immer älter werde, hoffe ich einfach, dass ich das ausnützen kann.
Stört es Sie eigentlich, wenn ständig Ihr Alter thematisiert wird?
Ein bisschen. Ich lese ja manchmal Kritiken. Viele finden es merkwürdig, dass man mit über 90 noch dirigiert, und schreiben das immer wieder. Aber es merkt und weiß doch jeder, wie alt ich bin. Die Interpretation, der musikalische Standpunkt, all das ist viel wichtiger!
Und ihr Terminkalender bleibt voll.
Nicht mehr so wie vor zehn Jahren. Ich kann Ihnen da eine witzige Begebenheit erzählen. Zwei meiner Töchter hörten neulich ein Gespräch mit meinem Manager mit. Und plötzlich mussten sie laut lachen. Das kannte ich gar nicht von ihnen, wenn ich wichtige Dinge bespreche. Warum lachten sie? Sie hörten, dass in Prag Semyon Bychkov abgesagt hatte. Ein junger Mann, er ist 72. Ich wurde gebeten, nächste Woche für ihn einzuspringen. Meine Töchter konnten nicht glauben, dass ein 97-Jähriger für einen 72-Jährigen geholt wird.