Extremist mit Geschmack: Der 29-jährige Jan Lisiecki legt einen fulminanten ersten Abend hin. © Peter Rigaud
In den ersten Takten von Klavierkonzert Nummer drei sitzen plötzlich zwei Pianisten auf dem Podium. Einer, der den c-Moll-Beginn schonungslos in den Raum meißelt, ein anderer, der wie aus einem Versteck heraus und bang antwortet. Eine Zwiesprache, die Jan Lisiecki allerdings mit sich selbst hält. Die Stelle ist symptomatisch für den ganzen Abend. Dr. Jekyll und Mr. Hyde in einer Person, und nicht nur das: Der 29-Jährige spielt Beethoven wie eine multiple Persönlichkeit. Schier unendlich viele Zwischenstufen und Nuancen hört man, Ausdrucks- und Kulissenwechsel auf engstem Raum. Niemand kann sich dem entziehen, sogar die ortsüblichen Huster sind endlich still.
Es ist der bestechende Auftakt zum Münchner Beethoven-Zyklus von Jan Lisiecki. An drei Tagen spielt er in der Isarphilharmonie alle fünf Klavierkonzerte, zum Finale an diesem Donnerstag gibt’s obendrauf das Tripelkonzert. Und schon der erste Abend ist einer für die Annalen. Lisiecki, dem technisch alles und wie selbstverständlich zur Verfügung steht, ist ein Inhaltsextremist. Nicht nur in Nummer drei setzt er auf maximale Agogik. Und wer fürchtet, dieses Hineinkriechen in die letzte Partiturecke, dieser selbstbewusste Furor, diese Detaillust, diese Umschwünge manchmal innerhalb weniger Takte, all das könnte ins Egomanische driften, der ist schnell beruhigt.
Dafür ist der Kanadier viel zu sehr Stilist. Das zeigt allein die Kommunikation mit der Academy of St. Martin in the Fields. Liesiecki dominiert nur da (etwa in der überlang ausgekosteten Kadenz des ersten Klavierkonzerts), wo es die Architektur erlaubt. In der dynamischen Dosierung geht er immer wieder aufs Spiel des Orchesters und seiner Solisten ein, nimmt sich zurück, um dann wieder ins Scheinwerferlicht zu treten. Die so offensiv wie geschlossen musizierende Academy mit Konzertmeister Tomo Keller ist ihm dabei eine ideale Partnerin.
Apart auch, wie Lisiecki gerade im grimmigen dritten Konzert immer wieder Erwartungshaltungen unterläuft. Wo andere aus dem Stand heraus mit harten Akzenten angreifen, geht er erst einmal in Deckung – und setzt sich wenig später umso pointierter in Szene. Ganz anders der Beginn des langsamen Satzes der Nummer drei. Ein Suchen, Ertasten, Abschätzen: Lisiecki führt radikaler als andere vor, wie sich die Musik hier erst zu finden, sich zu materialisieren scheint.
Ähnliches im ersten Klavierkonzert. Auffallend ist bei aller Detaildichte das Timing Lisieckis. Rubati und Demonstratives, das kommt schon vor. Und doch ist bei alledem Geschmack und Reife zu spüren. Vor allem aber immense Klarheit: Auch im Legato umwölkt sich Lieseckis Spiel nicht, sondern bleibt wie unter einer überscharfen Linse genau definiert. Auffallend Lisieckis starke Linke, die im Bass-Bereich Widerhaken und Gegenläufiges produziert. Den Humor von Beethovens erstem Konzert treiben dieser Solist und die Academy ins Skurrile. Es ist ein Spiel mit dem Werk. Als passende Einleitung dazu die zehnminütige „Parade“ der 1958 geborenen Komponistin Errollyn Wallen, komponiert für die Academy, eine Satire auf die symphonische Tradition. Am Ende Standing Ovations – wohin soll dieser Zyklus noch führen?
MARKUS THIEL