Vladimir Jurowski als Experte für Sachlichkeit. © Poehn
Einmal singen sie auch zusammen: Schauspieler Nicholas Ofczarek (li.) und Bariton Georg Nigl. © Michael Pöhn
Ist das wirklich Bachs C-Dur-Präludium aus dem „Wohltemperierten Klavier“, das Vladimir Jurowski so fein säuberlich und zart beginnen lässt? Gerade hatte noch Winter in den Karpaten geklirrt – und Kompanieführer Hiller die Unmenschlichkeit des Wetters mit seinem tödlichen Sadismus gegen die eigenen Soldaten spielend überboten: „Wer was dawider hat, den zerschmettere ich!“ Sein Kommandoton ließ zusammenzucken. Aber ansonsten breitete Nicholas Ofczarek die Szene ruhig und leise aus – in der grauenerregenden Langsamkeit eines Berichts, dessen Nüchternheit auf einer Art Schreckenslähmung basierte.
Bach kombiniert mit Antikriegs-Song
Und dann Bach? Nein. „Sag mir, wo die Blumen sind“, singt Georg Nigl plötzlich mit fadenfein schlichtem Ton darüber, setzt halb gesprochen „Wo sind sie geblieben?“ nach. Das vermeintliche Bach-Präludium verwandelt sich in eine einfache Song-Begleitung. Die Blumen, die Mädchen, die Männer, die Soldaten, die Gräber: Über allerlei harmonische Rückungen spinnt sich das Lied fort, eine Kette der Traurigkeit. Ofczarek fällt in den Refrain mit ein, übernimmt eine Strophe. Nigl bringt seine Noten zum Schauspieler an den Lesetisch, legt ihm die Hand auf die Schulter, sie singen zusammen. Nigl gibt Ofczarek einen Kuss. Kurz brandet Applaus auf. Am Ende aber schlägt Jurowski den Bogen zurück zu Bach – und Nigls wieder solistischer klanglicher Minimalismus erzielt Maximalwerte im Ausdruck.
Dass Pete Seegers 1955 entstandener Antikriegssong „Where have all the Flowers gone?“ an diesem Abend zu einem solchen Höhepunkt werden, ja, dass er überhaupt erklingen würde, hätte zuvor wohl niemand gedacht. Gewiss, Nigl und Ofczarek waren sich rasch einig, dass ihre Kombination von gelesenen Auszügen aus den „Letzten Tagen der Menschheit“ von Karl Kraus mit Liedern von Gustav Mahler und Hanns Eisler mehr sein solle als ein Zusammentreffen nach dem Reißverschlussprinzip, das war auch Jurowski wichtig. In Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Thomas Wördehoff haben die drei dennoch alle Erwartungen in den Schatten gestellt.
Nicholas Ofczarek reüssiert als Sprachkünstler in verschiedenen Inkarnationen des Österreichertums. Und der Singsang des g’feanzten – Pardon: höhnisch aufsässigen – Alkoholikers kommt voll zum Zug etwa beim „heilinger Verteilungskrieg“, zu dem der papageienhaft nachplappernde Unverstand die hohle Phrase des „heiligen Verteidigungskriegs“ bis zur Kenntlichkeit verzerrt. Doch viele andere überaus bekannte Stellen mit ihren garantierten Lachern lässt Ofczarek aus, wegen der inneren Logik und der Kompaktheit des Programms, aber auch, um es nicht gar zu billig zu geben. Sozusagen für die Galerie wird hier nämlich nie gesungen, gespielt, gesprochen – oder sagen wir einfach: musiziert, musizierend dargestellt. Auch Nigl und sogar Jurowski übernehmen in den Szenen aus den „Letzten Tagen“ kurze Einwürfe oder Mini-Charakterrollen in den Monologen und Dialogen, die Ofczarek im virtuosen Alleingang vorträgt. Und manchmal schieben sich Szenen zwischen Liedstrophen, mit oder ohne Klavieruntergrund.
Schleichend verwandelt sich dabei Ofczareks Panoptikum der unterhaltsamen Originale in ein Pandämonium der Verblendeten, Feindseligen, Egoisten und Sadisten. Georg Nigl gelang mit Peter Altenbergs „Und endlich stirbt die Hoffnung doch“ in der Vertonung Hanns Eislers der emotional nicht minder großartige musikalische Schlusspunkt – vor Ofczareks sarkastischem Epilog mit dem betrunkenen Pinkler auf dem nächtlichen Wiener Graben. Wenn Nigl Lieder singt, dann holt er sie so weit wie nur irgend möglich gleichsam von Pomp und Prunk der Opernstimme weg in einen Raum der Intimität, des direkten Gegenübers. Zumal bei Eislers Brecht-Liedern kultiviert er einen österreichisch gefärbten Tonfall, der sich auf den „Original“-Vortragsstil der Lotte Lenya ebenso berufen kann wie auf jene besondere Kombination aus Weichheit und messerscharfer Diktion, wie sie etwa von Tenor Julius Patzak unvergessen ist.
Die reine Schönheit des Tons, die sorgsam gedrechselte Phrase: Dergleichen ist bei Nigl keineswegs ausgeschlossen. Aber auch alles andere als das letzte, hehre Ziel der Kunst. Im Zweifel würde er die rein gesanglichen Tugenden jederzeit für die Wahrhaftigkeit seines Vortrags opfern. Insbesondere bei Gustav Mahler, in den Soldatenliedern aus „Des Knaben Wunderhorn“. Bei ihm bestehen sie aus radikal verletzlichen Kantilenen, naiver Zärtlichkeit und aus einer ungeschönten Brutalität von außen, die in der Seele mit ebenso ungeschönter Brutalität nachhallt.
Dissonanzen wie Stacheldraht
Vladimir Jurowski, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, ist ein Experte für glasklare Kühle und Sachlichkeit. So bohren sich manch Eisler’sche Dissonanzen in den Gehörgang wie Stacheldraht in die Haut. Wann war ein Liederabend zuletzt so ungekünstelt aktuell? Wann eine Lesung rein durch den Blick in die Vergangenheit so brisant? Und wann wurde man zuletzt an der Wiener Staatsoper mit einem rein äußerlich dermaßen geringen Aufwand von nur drei Menschen emotional so durchgeschüttelt, aber zugleich auch unnennbar getröstet? Standing Ovations.
WALTER WEIDRINGER